Cruzifixus
Präzisionschronometer exakt um Mitternacht stehen geblieben war. Spukten hier oben die Dämonen und Geister? Nachdenklich strich er sich über sein Kinn und sinnierte in Gestus und Duktus eines sich im Delirium befindlichen Stammtischphilosophen:
„Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Es gibt mehrere, die der Vergangenheit, die der Zukunft und die von heute.“
Im geisterhaften Licht der Taschenlampe sah Vinzenz aus wie der fleischgewordene, den Pontius Pilatus parodierende Dämon:
„Fragt sich nur: was ist bitte schön Wahrheit?“
Der Stall des Augias
Sole oriente - fugiunt tenebrae! Schatten und Schemen flohen das Licht!
Die geisterhaften Gestalten der Vergangenheit hatten sich wie der Morgendunst auf den Feldern in Luft aufgelöst. Simon streckte alle Viere von sich, räkelte sich auf einer bei einem Basarbaraber im Souk von Fes erstandenen Kamelhaardecke und ließ sich die Höhensonne auf den Bauch brennen. Die Hofer-Alm war sein sommerlicher Lieblingsliegeplatz. Seine Decke breitete sich auf einem Moränenbuckel, der sich wie ein Walfischrücken aus den sumpfigen, schilfigen Wiesen hob. Ein Logenplatz, von dem man einen Traumblick auf die schneebedeckten Gipfel hatte. Es war ein verzauberter, verwunschener Ort, an dem einem der Rest der Welt leicht abhanden kam. Die Strahlen der Sonne wärmten seine wachsweiße Haut. Seine Gedanken trieben mit den Föhnschiffchen am Himmel dahin, glitten ins fernste Blau. Simon versuchte zu vergessen, dass ihre nächtliche Razzia erfolglos verlaufen war. Es hatte sich nicht der geringste Hinweis gefunden, dass der Eremit entführt worden war oder irgendetwas mit den mysteriösen „Todesfall“ zu schaffen hatte. Mit der stoischen Gemütsruhe einer Milchkuh zerkaute er einen dürren Grashalm. War er auf dem Holzweg? Sollte er sich sein Scheitern eingestehen und die Geschichte ad acta legen? Er hatte nichts als Vermutungen und Hypothesen in der Hand. Wie zufällig fiel sein Blick auf den Rucksack, den er im Schlagschatten einer Krüppelkiefer abgelegt hatte. Simon beäugte den signalroten Trekking-Tornister mit unverhohlener Antipathie. Es war indes nicht der Rucksack, sondern dessen Inhalt der ihm Bauchgrimmen bereitete: das Manuskript seines Berghof-Buchs war eine Baustelle. Es gab jede Menge zu tun, Textpassagen trimmen, Fußnoten filzen, orthographische Schnitzer ausbügeln, bibliographischen Ballast abwerfen – doch er hatte keine rechte Lust auf die Fieselarbeit. Endlich fasste er sich ein Herz, schnappte den Papierstoß und spitzte während er laut mitlas den Rotstift:
„Dietrich Eckart propagierte als Erster die mythische Leuchtkraft des heiligen Bergs. Eckart war als überzeugter Nationalsozialist und fanatischer Antisemit Mitglied des Fichte-Bunds und der okkultistisch ausgerichteten Thule-Gesellschaft. Der verkrachte Dichter und Dramaturg war eloquent, scharfzüngig und wortgewandt. In Gesellschaft konnte Eckart geistreich und charmant sein. Er verstand es zu antichambrieren, sich einzuschmeicheln und Duftmarken zu setzen. Sein „Verdienst“ war es den linkischen, schäbig gekleideten Bierkellerprediger in der feinen Münchner Gesellschaft salonfähig zu machen.“
Simon befeuchtete die Lippen:
„Eckart war so etwas wie Hitlers Mentor, ja er war sein väterlicher Freund und Chefberater in ideologischen Fragen. Er sah in Hitler den Retter des Reichs und schrieb ihm charismatische Fähigkeiten zu. Eckart war der Erste der den unberechenbaren Wirrkopf als „Führer“ bezeichnete. Er dichtete das Sturmlied der SA und kreierte die kämpferische Parole: Deutschland erwache! Als er sich wegen Verunglimpfung von Reichspräsident Ebert vor dem Staatsgerichtshof verantworten sollte, floh er auf den Obersalzberg und mietete sich unter dem Decknamen Dr. Hoffmann im Göllhäusl ein. Dort besuchten ihn Hitler und Christian Weber. Weber war ein bayerisches Urgestein, ein Rosstäuscher und Bauernbazi wie aus dem Bilderbuch. Nach der Machtergreifung wurde er Chef der Münchner NSDAP. Unter dem Spitznamen „Bier-Göring“ wurde er einer der populärsten Figuren in Hitlers Hofstaat.“
Simon legte seinen Kopf in den Nacken. Die Gipfel hatten sich in flauschige Wollschals gewickelt:
„Noch Jahrzehnte später schwärmte Hitler in der Wolfsschanze von seiner ersten Begegnung mit den
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