Cruzifixus
Amtsstuben erhaltenen Akten und Protokolle widersprachen jedenfalls den Darstellungen Bormanns diametral: von Freiwilligkeit der „Absiedelung“ konnte keine Rede sein: wer gegen die Zwangsmaßnahmen Einspruch erhob, dem wurde mit Sippenhaft und der Überstellung ins KZ gedroht. Der Erbpächter der Grandauer-Alm war par exemplum für eine Woche in Arrest genommen worden, damit dieser „zur Besinnung“ kam. Über den Bergkämmen bauschten sich die Segel der Flokatiflotte. Wie besagte die Bauernregel: Weht der Südwind lind und lau, bleibt der Himmel licht und blau! Auch der 25. April 1945 war ein strahlender, wolkenloser Föhntag gewesen. Für den braunen Berg, dem präsumtiven Eckpfeiler der Alpenfeste, sollte er allerdings zum Dies Irae, zum Tag der Abrechnung werden. Das Schlusskapitel hatte Simon sinnigerweise „Götterdämmerung“ tituliert. Wagners wotansches Wähnen hatte einen Popanz hervorgebracht, der sein eignes Ende im Feuersturm heraufbeschwor:
„Im März 1945 trug sich Hitler mit dem Gedanken Berlin zu verlassen, um vom Berghof-Bunker aus die letzte Schlacht zu lenken. Um nicht als wankelmütiger Feigling dazustehen, verwarf der Führer den Gedanken wieder. Göring hegte hingegen keine Bedenken, das sinkende Schiff zu verlassen. Nach der Geburtstagsfeier im Führerbunker, die eher einem Leichenbegängnis glich, hielt den geschassten Generalissimus nichts mehr im brennenden Berlin. Am Morgen des 21. April bestieg der Reichsfeldmarschall eine JU-52 und traf am selben Abend in seiner Villa ein.“
Simon tippte mit dem linken Zeigefinger auf die Spitze des rechten. Was hatte Göring im Schilde geführt? Wieso wählte er den Obersalzberg als „Exil“? Es existierten Farbfotos und Filmstreifen, die zeigten wie der Nazi-Narziss in weißseidener Marschallsuniform vor dem Berghof posierte. Simon runzelte die Stirn. Wieso lächelte Göring so siegesgewiss in die Kamera? Weshalb hatte er sich entschlossen Hochverrat zu begehen? Simons Kopf war so schwer, dass er ihn auf dem Ellenbogen stützte:
„Am 23. April teilt er dem Führer per Fernschreiben mit, dass er es als seine Pflicht betrachte mit General Eisenhower einen separaten Waffenstillstand auszuhandeln. Görings eigenmächtiges Vorgehen, ruft Bormann auf den Plan. Er wird beim Führer vorstellig und erhält von ihm die Vollmacht, Göring seiner verbliebenen Ämter zu entheben und ihn wegen Hoch- und Landesverrats exekutieren zu lassen. Noch am selben Tag ergeht per Funk eine diesbezügliche Ordre an die SS-Kommandantur am Berghof.“
Je intensiver er sich mit dieser Geschichte beschäftigte, desto merkwürdiger und ungereimter erschien ihm das Procedere. Was war auf den Befehl Hitlers hin passiert? Nichts! Göring war weder in Gewahrsam genommen, noch an die Wand gestellt worden. Stattdessen hatte ihm der Berghof-Kommandant Obersturmbannführer Frank einen SS-Schutztrupp „als Ehreneskorte“ zugebilligt. Warum hatte die SS den Befehl des Führers ignoriert? Wieso hatte man Göring nicht umgehend beseitigt? Um das Verwirrspiel auf die Spitze zu treiben, flogen die Alliierten tags darauf den ersten Luftangriff auf den Berghof. Die Faktenlage war eindeutig:
„275 Lancaster- und Mosquito-Bomber der RAF, 98 Mustangs der 8. US Air Force werfen insgesamt 1232 Tonnen Spreng- und Phosphorbomben. Zum Einsatz kommen auch die über 6 Meter langen und über 5 Tonnen schweren mit Verzögerungszünder versehenen Tallboy-Bomben. Die „großen Jungs“ verfügen über eine ungeheure Sprengkraft und waren eigens konstruiert worden, um den mehrere Meter dicken Stahlbetonpanzer deutscher Bunker zu knacken. Ein Großteil der Gebäude, Kasernen, Öltanks, Verwaltungs- und Versorgungstrakte werden zerstört. Aufgrund des Bunker- und Stollensystems fordert der Angriff nur wenige Todesopfer: der „Gadener Gaubote“ berichtete in seiner Ausgabe vom 30. April von 31 Toten. In der Hauptsache Zivilisten. Göring kommt jedenfalls ungeschoren davon.“
Konnte das alles Zufall sein? Sein Instinkt sagte: Nein!
Simon hielt die Augen geschlossen: auf der Leinwand hinter seinen Lidern spielte sich ein Drama ab. Wie aus dem Nichts tauchte eine Horde metallisch glänzender Heuschrecken am Horizont auf und stürzte sich mit einem bösen Brummen auf die grünen Hügel und Täler. Spreng- und Phosphorbomben regneten wie die
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