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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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erzählt?“
                Vinzenz strich sich über sein ausgeprägt, kantiges Kinn:
                „Nein, nie! Von meiner Tante weiß ich, dass es den Einsiedlern in ihrer Höhlenbehausung irgendwann zu eng und ungemütlich geworden ist. Die Bergbauern halfen ihnen beim Bau einer hölzernen Kapelle. Ein gewisser Bruder Bartholomäus, der irgendwie um zwei Ecken mit uns verwandt war, hat die Obrigkeiten mit Petitionen, Bettel- und Bittbriefen bombardiert, damit er das Plazet für einen Kirchbau aus massiven Stein bekommt. So weit ich weiß, hat der Fürstpropst von Gaden die Kirche höchstpersönlich konsekriert.“
                Mit der Beharrlichkeit eines über seinen Formeln brütenden Physikprofessors kraulte Simon sein stachliges Kinn:
                „Du bringst mich da auf eine Idee. Vielleicht suchen wir am falschen Ort. Es wäre doch durchaus denkbar, dass die Brüder ihre geheimen Aufzeichnungen in den Höhlen und Spalten der Felswand versteckt haben.“
                Vinzenz fuchtelte wild mit der Stablampe herum, so dass das Licht in wirren Kreisen und Spiralen über Wände und Decken irrte:
                „Wir sind hier in Hochharting und nicht in Qumran. Warum sollen sich die Brüder die Mühe gemacht haben, irgendwelche Papiere in Felshöhlen zu deponieren.“
                 Simon hob den Blick zu den Spinnwebgewölben der Sakristei. War Quarantan eine Umschreibung, ein Codewort für Qumran? Die Höhle war ein mythischer Ort. Dort lagerten die okkulten Schriften, der Gral, die Schätze des hermetischen Wissens. Und davor fauchte der den Hort des Heiligen bewachende Drache.
     
    Was ging hier vor? Hatte er nicht eben verdächtige Geräusche gehört? Simon bekam es mit der Angst zu tun. Was wenn Sie auf frischer Tat ertappt wurden? Was wenn die Verbrecherbande oder die Apostel des Alten hier aufkreuzten? Er musste seine Studien schleunigst beenden. Im zweiten Band der Annalen brach eine neue Zeit an, eine Zeit der Aufklärung und des Liberalismus der den Niedergang der Kartause besiegelte. Zuchtlosigkeit und Zügellosigkeit machte sich breit. Ein gewisser Pater Irenäus schien es weder mit der Demütigkeit noch der Keuschheit all zu eng oder streng genommen zu haben. Zwischen den Zeilen des über seinen Vorgänger sichtlich entrüsteten Chronisten war unschwer herauszulesen, dass Irenäus seine Christenpflicht sträflich vernachlässigte, sich auf die Schnapsbrennerei verlegte und sich von zwei übelbeleumdeten Weibsbildern die Wirtschaft führen ließ. War die Einsiedelei zum Sündenbabel, zur Lasterhöhle verkommen? Als ihm Simon über den ausschweifenden Lebenswandel des Einsiedlers berichtete, grinste dieser wie ein lüsterner Satyr über beide Ohren:
                „Nicht alle Eremiten waren Heilige. Meine Tante hat mir erzählt, dass die Einsiedelei zeitweise die reinste Räuberhöhle war! Während dem Krieg waren Frater Solo und Frater Pio dort oben. Zwei nichtsnutzige Dreckhammel, die mit einer berüchtigten Schieberbande unter einer Decken gesteckt sind und deren Schmuggelware und Diebesgut versteckt und weiter verkauft haben!“
                Angewidert verzog Simon sein Gesicht. Vinzenz fühlte sich zu einer  eingehenden Erklärung verpflichtet:
                „Die Einsiedelei war ein Austragshäusel für die jüngeren Bauernsöhne reihum. Die sind nicht lange gefragt worden, ob Sie eine religiöse Ader haben, wichtig war nur, dass die unnützen Esser vom Hof waren. Die Burschen haben sich denn auch nicht weiter um Jesus geschert und den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Der Ägid aber hat an seine Sendung geglaubt.“
                Um seine Behauptung zu untermauern, rezitierte er eines der exaltierten, vor Pathos triefenden Gedichte seines Onkels:
                „Jesus nachzustreben ist mein Verlangen, weder Mühsal noch Qual macht mich bangen, weder List noch Tücke mag mich verletzen, wüchse das Edelweiß im Tal, keiner würde es schätzen.“
                Erwartungsvolle Stille drang aus den Ritzen des Raums. Staubkörnchen tanzten im Lichtkegel der Taschenlampe. Unentschlossen wog Simon das Buch in Händen. Sollte er es einstecken? Konnte man dies unter den gegebenen Umständen als Diebstahl bezeichnen? Simon sah auf das grünlich fluoreszierende Zifferblatt der Armbanduhr. Überrascht, ja konsterniert stellte er fest, dass sein

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