Cruzifixus
entsprangen? In seiner besten Zeit, in seinen Dreißigern und Vierzigern, hatte er sich solche Fragen nicht gestellt. Er hatte die Welt nach praktischen, rein utilitaristischen Gesichtspunkten klassifiziert, systematisiert, synchronisiert. Er hatte in Schwarzweißmustern gedacht: Ließen sich die Faktoren des Erfolgs berechnen? Was nutzte, was schadete ihm? Was brachte ihn nach oben, was nicht? Womit ließ sich Geld verdienen, womit nicht? Ja, er war der magischen Formel der Profit- und Machtmaximierung nachgejagt.
Die mit Stacheldraht umzäunten Wiesen versanken im Morast. Kühe staksten mit gesenkten Köpfen durch die Schlammbrühe, immer auf der Suche nach einem saftigen Büschel Gras. Die Mistviecher machten es sich einfach. Für die Muh-Fraktion zählten nur drei Dinge: fressen, furzen und ficken! Er kannte die Natur zu gut, um sich von ihrer vergänglichen Blumen- und Blütenpracht blenden, zu romantischer Emphase hinreißen zu lassen. Die Erde war nicht Eden. Dort draußen experimentierte ein genialischer Genetiker, um mit den einfachen und doch so raffinierten Prozess der Evolution neues, robusteres, höheres Leben zu züchten. Jedes Schlammloch war eine Petrischale, in der Myriaden von Mikroben wuchsen und gediehen. Tümpel und Pfützen waren Brutstätten für Schädlinge und Schmarotzer aller Art, für Würmer, Raupen, Wanzen, Egel, Läuse, Milben und Mücken. Ein Seuchensumpf, ein Infektionsherd, ein epidemisches Epizentrum. Dort draußen schwärmte und wuselte es, kroch und krabbelte es, surrte und summte es. Ein Pulk blutdürstiger Parasiten, der nur darauf wartete, sich auf seine nichts ahnenden Opfer zu stürzen, um ihm den Saft aus den Adern, das Mark aus den Knochen zu saugen. Das Leben in der Wildnis war ein einziger Kampf: um Licht, um Beute, ums Weibchen. Ein Tier ohne Revier verendete, eine Pflanze ohne Licht verkümmerte. Nur die Starken bekamen genug Futter, hatten genug Mumm in den Knochen um ihre Nebenbuhler zu vertreiben und nach Hetzenslust zu kopulieren.
Kratzte man die dünne zivilisatorische Tünche ab, kam darunter das wahre Gesicht des Menschen zum Vorschein: ein unersättlicher Beutemacher, der stets auf der Suche nach neuen Jagdgründen, neuen Ressourcen war, seinen triebhaften Neigungen frönte und seinen Besitz mit Zähnen und Klauen verteidigte. Ja, der Mensch war ein Raubtier - und ein höchst gefährliches dazu!
Paintinger öffnete das Fenster, hielt seine rot geäderte Rotweinnase in den Wind und nahm Witterung auf. Die Morgenluft roch frisch und feucht, nach wagemutigen Heldentaten. Sommer wie Winter hatte er die Natur wie unter einem Brennglas beobachtet, hatte ihre periodischen Zyklen und Kreisläufe studiert. Und er hatte seine Schlüsse daraus gezogen: man musste stets wachsam sein, jegliche Abweichung und Veränderung rechtzeitig erkennen, um Gegenmaßnahmen ergreifen, das Abartige, Krebsartige im Frühstadium zu bekämpfen und auszumerzen. Wer hier zögerte, beging einen tödlichen Fehler. Die Gesetze des Dschungels waren erbarmungslos, kannten nur ein Entweder-Oder! In freier Wildbahn galt das Faustrecht des Stärkeren. Ein verletztes, schwächliches Tier hatte keine Chance. Dasselbe galt für den Menschen. Im Alter musste er lernen seine schwindenden Kräfte zu konzentrieren, den natürlichen Nachteil gegenüber den jüngeren Emporkömmlingen durch ein Plus an Erfahrung, Scharfsinn und Willenskraft wettzumachen.
Paintinger besann sich auf seine Kämpferqualitäten. Ein Ruck ging durch seinen unförmig aufgedunsenen Leib. Seine Mähne mochte grau geworden sein, doch in seiner Brust schlug noch immer das Herz eines Löwen. Mit einer unwirschen Handbewegung schob er das dreckige Geschirr zur Seite und stemmte sich hoch. Er schulterte Rucksack und Stutzen und trat vor die Tür.
Es goss wie aus Gieskannen. Der Himmel war von einem schiefrigen, schmutzigen Grau. Vor der Bergkulisse war ein Regenvorhang niedergegangen. An Sonnentagen hatte man von hier oben eine herrliche Aussicht. Der Blick reichte vom Göll im Osten, über die urzeitlichen Felsgerippe des Sturzhorns, die ins Kalkgestein gefrästen Zinnen des Hohen Hundstods bis zum Watzmann im Westen. Der Obersalzberg war bei klarer Sicht nur einen Steinwurf entfernt. Am gegenüberliegenden Hang hatte sich der Berghof unter die hohen Tannen geduckt. Ja, hier befand er sich auf Augenhöhe mit dem Führer.
Sein Blick
Weitere Kostenlose Bücher