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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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getragenen Verachtung für die Hostienfresser und Weihrauchschnüffler hatte es Paintinger nie übers Herz gebracht, die Himmelstür ein für allemal hinter sich zufallen zu lassen. Ja, es war ihn aus geschäftlichen wie gesellschaftlichen Gründen opportun erschienen, sich ein christliches Deckmäntelchen umzuhängen. Er hatte nicht davor zurückgescheut, seine Beziehungen zum Erzbischöflichen Ordinariat und zu den Gemeindepfarren zu pflegen, sich mit großzügigen, selbstredend von der Steuer absetzbaren Spenden beim Diözesandekan und dem Abt von Hohenhaslach Liebkind zu machen. Es war jedoch nicht nur reiner Pragmatismus, der ihn am Sonntag zur Messe gehen ließ, es war eine gewisse Scheu vor dem Jenseits, vor Jesus. Im Gegensatz zu Gustl war es ihm nie zur Gänze gelungen, den Gespenstern der Vergangenheit zu entrinnen. Sie waren da – hier in seinem Kopf. Wie sonst hätte ihn die schrille, quäkende Stimme Rosmillers in seine Alpträume verfolgen sollen?
                „Es ist die heilsame Erkenntnis des wahren Gottes aus seinem Wort, worauf unser aller Seligkeit beruht. Du aber Paulus, bist ein Kind des Teufels!“
                Würde er also in der Hölle schmoren? Würde ihm das Himmelreich auf ewig verschlossen bleiben?
                Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Er blieb kurz stehen und lehnte sich mit den Rücken an die roh verputzten Wände des Flurs. Woher kamen diese gruseligen, alptraumhaften Bilder, die ihm die zu erwartenden Höllenstrafen vor Augen führten? Waren diese Schemen Ausgeburten lange verdrängter Ängste, raubte ihn sein schlechtes Gewissen den Schlaf oder ließ ihn die Furcht vor dem Tod in die Abgründe seiner Seele sehen? Im Halbdämmer erschien ihm der schmale Grat zwischen Wachen und Schlafen wie ein Streifen grellweißen, gleißenden Lichts. Ein Licht, dass auf ihn zukam, ihn umhüllte und mit sich riss. War dies der Tod? Was erwartete ihn auf der anderen Seite, am anderen Ufer des Styx? Der himmlische Reigen einer frohlockenden Engelsschar? Ein Sturz ins Bodenlose, in eine Dunkelheit, die sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitete und die lichten Stellen mit einer stinkenden, klebrigen Pechschicht überzog.
                Sein Atem ging stoßweise, sein Blut pochte in den Adern. Dabei hatte er früher die Furcht im Griff gehabt. In mondlosen Nächten war er aufgebrochen, um im Zwischenreich der Elfen, Gnome und Kobolde zu wildern, auf verschlungenen Pfaden ins Herz der Finsternis vorzudringen. Der Tod war sein steter Begleiter gewesen, war ihm wie ein Schatten gefolgt und war ihm – so schien es ihm zumindest – ein getreuer Gefährte gewesen.
                Nun kam der Schatten jedoch bedrohlich nahe, kroch ihm auf jenem schmalen Grat entgegen. Ein unüberwindliches Hindernis, auf jenem leuchtenden Pfad der hinaus führte aus dem Labyrinth der Finsternis.
     
    Das Feuer im Ofen war heruntergebrannt. Mit mechanischen Bewegungen tunkte er eine altbackene Semmel in den Muckefuck. Er war noch nie ein Gourmet gewesen – und jetzt im Alter erschien ihm das Essen nur noch als notwendiges Übel, um seinen Körper mit Brenn- und Ballaststoffen zu versorgen. Paintinger würgte die letzten Semmelreste hinunter und schob den Vorhang beiseite: die Kuppen des Reisenbergs verschwanden hinter einem nebelgrauen Perlschnurvorhang. Über den Auwäldern hingen dichte Nebelschwaden. Mefitische Dünste entstiegen den vor Feuchtigkeit dampfenden Böden. Die Natur hatte ihr Trauerkleid übergezogen. Die Weiden am Flussufer ließen ihre Köpfe hängen, die Erlenbüsche kauerten sich eng zusammen. Jenseits der Ache dehnte sich der graugrüne Fichtenfilz des Frobertshamer Forsts. Sein Revier erstreckte sich über die sanft abfallenden Hänge zu Füßen des Untersbergs.
                Sein Geist war willig, aber das Fleisch war schwach. Warum blieb er bei diesem Wetter nicht einfach daheim? Was war nur mit ihm los? Sonst drückte ihm das graue Gewölk doch auch nicht aufs Gemüt. Unbeweglich wie ein altes Nilkrokodil saß er da, fixierte die in quälender Langsamkeit vorrückenden Zeiger der Wanduhr. War seine Zeit bereits abgelaufen? War er nur noch auf Widerruf hier? An manchen Tagen glaubte er verrückt zu werden, unter Zwangs- und Wahnvorstellungen zu leiden, sich in abgehobenen Wolkenkraxeleien zu versteigen. Stimmte es, dass Wahnsinn und Genie derselben kognitiven Deviation

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