Cruzifixus
das für ein Rabenvater, der sich nicht um seinen eigenen Sohn kümmert?“
Rosmillers Gesicht hatte sich zunächst puterrot verfärbt und danach schlagartig verfinstert:
„Du Saukrüppel, wenn ich dich erwische! Dir werde ich Mores lehren, du Rotzlöffel! Unseren Herrgott willst lästern, du frecher Bankert? Warte nur du Saukerl, das wirst bitter bereuen!“
Der Kooperator war wie von der Tarantel gestochen vom Lehrerpult aufgesprungen, um die Verfolgung des „Dämons“ aufzunehmen. Mit einer Behändigkeit, die ihm niemand in der Klasse zugetraut hätte, war der verwachsene Gnom hinter ihm hergewatschelt und hatte ihn am Rockzipfel zu fassen bekommen:
„Habe ich dich du Satansbraten! Ich bläue dir den Buckel, dass dir hören und sehen vergeht!“
Der Kooperator hatte zum Schlag ausgeholt, doch im letzten Moment war es Paintinger gelungen sich seinem Zugriff zu entziehen, die Beine in die Hand zu nehmen und Fersengeld zu geben. Rosmiller hatte ihm außer sich vor Wut nachgebrüllt:
„Bleib stehen, du Drecksbengel! Hörst du! Der göttlichen Gerechtigkeit wirst du nicht entgehen!“
Die himmlische Gerechtigkeit hatte ihn jedoch ungeschoren gelassen und stattdessen Frater Frumentius gestraft. Im Krieg hatte Rosmiller auf dem Dachboden des Kuratenhauses jüdische Flüchtlinge und desertierte Wehrmachtsangehörige versteckt. Einer der lieben Nachbarn hatte ihn bei der Gestapo verpfiffen. Daraufhin war „Bruder Itzig“ verhaftet und ins Zuchthaus verbracht worden. Einzig und allein der Intervention des Abts von Hohenhaslach hatte es der „Volksschädling“ zu verdanken, dass er nicht umgehend unters Fallbeil, sondern ins KZ nach Dachau kam. Die „Judenlaus“ war indes bald darauf bei einem misslungenen „Ausbruchsversuch“ hinterrücks erschossen worden. Rache war eben Blutwurst.
Das Kapitel Christus & Co. hatte er jedenfalls über Jahrzehnte hinweg abgehakt gehabt: Gott war ein Neidhammel der niemand neben sich duldete, ein unmenschlicher, tyrannischer Großbauer, der seine Knechte zu Kreuze kriechen ließ - Punktum!
In seinem Onkel, dem „Jager Gustl“ hatte Paulus in seinen Jugendjahren ein Vorbild, einen Verbündeten gefunden, der seine Antipathie gegen die Kreuzkriecher und Duckmäuser teilte und sein gestrenger, aber gerechter Lehrmeister und Mentor wurde. Der Gustl war aus hartem Holz geschnitzt. Sein Onkel ließ sich nichts vormachen, er wusste wo der Hase lang lief und der Barthel den Most holte. Von Anfang an war der Wildfang das schwarze Schaf der Familie gewesen, der ein unstetes Zigeunerleben führte und nirgends und überall zu Hause war. Der Gustl liebte seine Freiheit über alles und ließ sich von niemanden drein reden: weder von seinem Vater, noch von den Weibsbildern oder gar den Kuttenbrunzern. Seine Lebensphilosophie war so einfach wie simpel: nimm mit was du kriegen kannst und schau, dass dich keiner dabei erwischt. Paintinger sah ihn noch heute Pfeife schmauchend im Eck sitzen und ihn mit rauer, rauchiger Birnbrandstimme Ratschläge erteilen:
„Vergiss nicht, dass dir das Hemd näher als die Hosen ist! Merk dir, wenn dir einer etwas ans Zeug flicken will! Irgendwann wird abgerechnet – und dann ist Zahltag.“
Wenn er nur wüsste, wann jener versprochene Zahltag endlich kam. In letzter Zeit verspürte er immer öfter das Gefühl einer inneren Leere, eines unerklärlichen Überdrusses an Dingen, die ihm früher erstrebenswert und vorteilhaft erschienen waren. Der Gedanke an den Tod drängte sich immer mehr in den Vordergrund. Welchen Sinn besaß sein Leben noch? Was kam nachher? Es mochte wohl eine Hölle geben, aber einen Himmel, ein Paradies? Sein Onkel hatte jedenfalls nicht daran geglaubt. Seinen Überzeugungen und Grundsätzen war der Gustl bis in den Tod hinein treu geblieben. Noch auf dem Sterbebett hatte er die heiligen Sakramente verweigert, auf den Boden gespuckt und dem Pfarrer offen ins Gesicht gesagt, dass der Christengott ein hinterfotziger Schweinehund sei. Sein letzter Wille war es gewesen, nicht auf dem Friedhof, sondern an seinem Lieblingsplatz, oben auf der Sinninger Höhe, beerdigt zu werden.
In punkto Prinzipientreue und Konsequenz konnte er dem Gustl nicht annähernd das Wasser reichen. Trotz aller zur Schau
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