Cruzifixus
Gebirgsriesen beim Namen genannt: Sturzhorn, Sonnwendspitze, Zwölferkogel, Totenkirchl, Teufelsjoch. Jene fernen Gipfel waren für Simon mehr als trigonometrische Vermessungspunkte, die sich in topographischen Karten im Maßstab 1:50000 abzeichneten. Die Berge führten ein Eigenleben. Sein Großvater hatte ihm eingeschärft, dass in ihren Höhlen zottelige Zwerge, Trolle und Gnome hausten, dass es des nächtens in den Bergwäldern von Elfen, Kobolden und Wichteln wimmelte. Wie lange war das her? Er vermeinte den behäbigen Brummbass seines Großvaters zu hören, doch in die gutmütigen, gutturalen mengten sich grelle, dissonante Töne. Wild durcheinander rufende, kakophonische Stimmen, die eine Prozession surrealer Schattenbilder antrieben. Bilder die aus jener Grauzone kamen, in der sich Träume mit Alpträumen mischten.
Simon sah sich in zehn Jahren. Sah eine gebückte, gebeugte Gestalt am Schreibtisch sitzen, einem Sisyphus gleich eine gleichförmige Fronarbeit verrichten: da feierte die Ortsgruppe des Jungbauernbunds ihr 100-jähriges Bestehen, dort forderte die Investorengemeinschaft „Alpeaqua“ die beim Oberlandesgericht anhängigen Revisionsverfahren gegen die geplante Thementherme zu sistieren, da warb das Kuratorium der Fleckviehfreunde für ein Moratorium bei Freilandversuchen mit gentechnisch veränderten Maissorten. Zur Abwechslung durfte er über einen Amok laufenden Einödbauern, der seine halbe Familie massakriert, einen eifersüchtigen Kfz-Mechaniker, der sein untreues Ehegespons erdrosselt oder einen neurotischen Freiheitskämpfer, der sich mit einer selbst gebastelten Rohrbombe in die Luft gesprengt hatte, berichten. Nein – dazu durfte es nicht kommen. Der Marter-Mord würde ihm zum Karrieresprung verhelfen.
Die Flasche war leer. Simon sinnierte in der Betrachtung seines Spiegelbilds versunken:
„Sein oder Schein, das ist hier die Frage!“
Es war höchste Zeit aufzubrechen. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten. Was würde er dort oben finden? Den Zugang zu einem labyrinthischen Kellerkomplex, der ihn ins Herz der Finsternis vordringen, ihn auf die Folterkammern eines irren Psychopathen stoßen ließ? Den Einstieg in eine abgründige, alptraumhafte, von Komplotten, Kabalen und mörderischen Intrigen regierten Unterwelt? Simon kannte die Gefahr, wusste um seine leicht entflammbare, zum überhitzen neigende Vorstellungskraft. An diesen Fall musste er mit der Akribie und Akkuratesse eines abgeklärten Kriminalisten herangehen und nicht mit der Verve eines Sensationsreporters, der nur nach den Schlagzeilen schielte und noch die hauchdünnsten Faktenfädchen zu einem atmosphärisch dichten Lügengespinst verspann.
Das grelle mittägliche Licht sickerte durch seine Lider, zauberte glutrot verlaufende Farbflächen auf seine Netzhaut. Das zauberische Farbenspiel verlöschte, verblasste zu einem purpurfarbenen Streifen inmitten lichtloser Schwärze. Für einen Moment war es ihm, als ob er in einer lichtlosen, muffigen Höhle herumirrte, verzweifelt nach einem Ausweg suchend. Ein diffuses Angstgefühl bemächtigte sich seiner. Sein Herz hämmerte wie wild gegen den Brustkorb. Einen Moment lang vermeinte er das Gleichgewicht, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Erschrocken fuhr er aus seinem Wachtraum hoch und stellte voller Erleichterung fest, dass sich um ihn herum nichts verändert hatte. Die Bergriesen standen felsenfest und unverrückbar, nicht einmal der stärkste Glaube würde sie versetzen.
Simon erhob sich mit der Schwerfälligkeit eines gebrechlichen Alten. Seine Beine waren wie von weichen, biegsamen Wachs. Wie ein dem Trunk ergebener Stelzenläufer wankte er die paar Meter bis zum Abbruch der Steilkante. Langsam fiel die Benommenheit von ihm ab.
Der Ausblick raubte ihm jedes Mal aufs Neue den Atem. In lichtloser Tiefe grollte und gurgelte die Söller Ache. Über der tief eingeschnittenen Schlucht erhob sich der Untersberg. Dichte Wolkenschleier umwehten die Zinnen der trutzigen, schier unbezwinglichen Felsfeste. In seiner aktiven Zeit als Hobbymineraloge war er öfters dort oben gewesen, hatte das schroffe, von schrundigen Rissen durchfurchte Plateau mit Geohammer, Spatel und Meißel erkundet. Ein unwirtlicher Ort mit spärlicher, sich in Senken und Mulden duckender Vegetation. Der wie aus einem Guss geformte Bergstock hatte
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