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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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seit Jahrhunderten die Phantasien der Bergbewohner beflügelt, hatte Dichter und Dramatiker inspiriert. Von Generation zu Generation überlieferte Sagen wussten vom kristallenen Thronsaal des Kaiser Lobesam im Innern des Berges zu berichten. Noch lagen der Herrscher und seine streitbaren Scharen im Dornröschenschlaf. Am jüngsten Tag jedoch würden die Schlafenden erwachen und unter dem Adlerbanner in die letzte Schlacht ziehen. Die Felsflanken des von Mythen, und Legenden verklärten Gebirgsmassivs glänzten und glitzerten im Sonnenglast wie die Kronjuwelen des Kaisers. Der Berg schien von innen heraus zu leuchten. Der monolithische Block wurde seit Urzeiten als ein sakraler Ort der Mysterien, des Heiligen verehrt. Ihn umgab eine Aura, die für den Nimbus des Magischen empfängliche Menschen anzog wie Motten das Licht. Wolkenwandler und Schwermutsschwärmer, Romantiker und Runengläubige erblickten im Untersberg den Ansitz der Asen, den germanischen Götterberg. Hier würde der arische Messias auferstehen, hier würde das heilige deutsche Reich seine Apotheose erfahren.
                Jene Woge pathostrunkener, patriotischer Begeisterung trug Hitler empor, ließ den windigen Bräukellerdemagogen zum heilsmächtigen Erlöser mutieren, der seine Schwingen über Großdeutschland, ja über die ganze Welt ausbreitete, der wie weiland Moses sein Volk gen Osten ins gelobte Land führte. Seine Recherchen zum Berghof-Buch hatten eine Fülle von Dokumenten und Materialien zu Tage gefördert, die zweifelsfrei belegten, dass der Führer sein Diktatorendomizil nicht etwa zufällig am Fuße des mythenträchtigen Schatzbergs aufgeschlagen hatte, an jenen „Kraft schenkenden Fleck, an dem sich die Stimme des Blutes kraftvoll erhebt“. In seinem grotesken Größenwahn hatte sich der Nazi-Narziss in die Rolle des heidnischen Heroen hineingesteigert, der nach seinem Tode in einem Mausoleum oben auf dem Untersberge bestattet werden wollte wie ein Pharao in seiner Pyramide.
     
    Simon hakte die Finger in die Schulterriemen des Rucksacks, zog die Riemen stramm und legte sich wie ein Bräuross ins Geschirr. Er ließ eine von leuchtend, hellen Tupfen durchwirkte Fichtenschonung hinter sich und verschwand im Schatten des Bannwalds. Das Blätterdach filterte das Licht, ließ nur Strahlenspuren bis auf den Waldboden dringen. Im Halbschatten wucherten Moose, wuchsen Farne und dickblättrige Staudengewächse. Die heftigen Regengüsse der vergangenen Woche hatte den tonigen, lehmigen Untergrund aufgeweicht, den Weg in eine schmierige Rutschbahn verwandelt. Er kam nur mühsam voran, stapfte durch knöcheltiefen Morast und schlitterte über glitschige Gesteinsbrocken. Der Weg schlängelte sich in schier endlosen Serpentinen den Hang entlang, machte einen weiten Bogen um einen Graben, in dem ein von den Regenfällen angeschwollener Bergbach rauschte. Ein unachtsamer Moment – und Simon geriet ins straucheln. Heftig mit den Armen rudernd, bekam er einen knüppeldicken Ast zu fassen:
                „Du Depp, du damischer! Pass gefälligst auf wo du hintrittst, sonst brichst dir noch einen Haxen!“
                Der Weg war das Ziel. Dennoch war Simon froh, als das Wegkreuz in Sicht kam. Die Rote Marter gemahnte an das schreckliche Wüten der Pest im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts. Die Sturmtruppen des Kaisers, die spanischen Pikeniere und flandrischen Musketiere hatten die Seuche ins Bayernland eingeschleppt. Abertausende waren allein im Virgilswinkel jener Gottesgeißel zum Opfer gefallen. Es war eine Zeit des Mordens und Brennens, des Verwesens und Verderbens gewesen, die einen anonymen Herrgottsschnitzer aus Himmelham dazu getrieben hatte, die Leiden des Heilands in plastisch, drastischen Formen darzustellen. Der Körper Christi wand sich unter Todesqualen ums Kreuz Seine Gliedmaßen waren auf unnatürliche Weise verrenkt, die Rippen stachen wie Dolchspitzen aus dem Brustkorb. Das von Gram und Pein zerfurchte Antlitz des Herrn war von tödlicher Blässe. Der Gekreuzigte bot einen traurigen, ja einen Entsetzen erregenden Anblick. In alten, gottesfürchtigen Zeiten hatten es selbst hart gesottene Galgenstricke vermieden, die sakralen Stätten zu entweihen, heute war dem Mordgesindel nichts mehr heilig, war niemand, nicht einmal mehr Jesus, vor ihnen sicher.
                Simon sah sich am Tatort um: auf den ersten Blick konnte er nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches entdecken. Wenn da nicht die

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