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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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niedergedrückten, platt gewalzten Grasbüschel, die Schleif- und Trittspuren gewesen wären, hätte nichts darauf hingedeutet, dass hier vor nicht mal 48 Stunden ein grausiges Gewaltverbrechen geschehen war. Die Spuren waren gesichert, die Arbeit der Tatortgruppe getan. Was hoffte er hier noch zu finden? Den Genius loci, den Schatten des Toten? Ohne Vorankündigung meldeten sich seine Gedärme grummelnd zu Wort. Simon verspürte das dringende Bedürfnis sich zu erleichtern, Ballast abzuwerfen. Ein tief verwurzeltes Gefühl von Pietät hinderte ihn daran, seine Notdurft quasi unter den Augen des Herrn zu verrichten. Er blickte sich rasch um, suchte nach einem stillen Örtchen und stieß dabei auf einen schmalen Trampelpfad. Er folgte der Trittspur und gelangte zu einer nahezu kreisrunden, von krummwüchsigen Krüppelkiefern umstandenen Lichtung. Ein Ort wie geschaffen, um den prosaischen Dingen des Lebens ihren Lauf zu lassen. Simon hatte sein Geschäft kaum erledigt, da fiel ihm eine markante Baumgruppe ins Auge. Die Birken standen wie mit dem Lineal gezogen in zwei Reihen hintereinander und sahen aus als ob sie zum Appell angetreten waren. Die Trittspur führte geradewegs auf die wie angewurzelt dastehende Birkentruppe zu. Simon kniff irritiert die Augen zusammen und schlich wie ein Indianer auf dem Kriegspfad durchs Riedgras. Ihm näher kommen sah er, dass er keiner optischen Täuschung aufgesessen war: exakt in der Mitte der beiden Birkenreihen erhob sich ein mit Patina besetztes, schmiedeeisernes Kreuz.
     
    Ein Wegkreuz, wo weit und breit kein Weg und Steg war? War dies hier ein besonderer Ort, an dem die zur roten Marter pilgernden Gläubigen die Messe gefeiert oder Brotzeit gemacht hatten? Handelte es sich um ein Gedenk- oder ein Votivkreuz? Simons Gedankenmaschinerie lief an, kam wie eine Druckerpresse ins rotieren. Die Mühlen des Geists mahlten jedoch nur, wenn es gelang den ungebändigten Gedankenfluss auf die Mühlräder zu lenken. Simon sortierte seine Gedanken, holte sein Diktafon aus der Brusttasche seines Lumberjacks und drückte auf den Aufnahmeknopf:
                „Schöne, gediegene Schmiedearbeit. Schon etwas angegraut. Der Korpus Christi - wohl aus Messing. Am Fuß des Kreuzes ein Strauß verwelkter Schnittblumen in einer grünen Plastikvase. Das herzförmige Emailschildchen ziemlich verblasst -tippe auf Maria mit Engel oder Jünger. Die Inschrift - unleserlich. Steht wohl für R.I.P. – Requiescat in pacem! Und weiter…“
                Simon hielt die Pausetaste gedrückt. Welch menschliche Tragödie mochte sich hier vor 30, 50 oder 100 Jahren abgespielt haben? War ein schneidiger Holzknecht in seinen besten Jünglingsjahren von Blitz oder Baum getroffen, ein wackerer Jägersmann von einer wütenden Wildsau niedergetrampelt worden? Hatte der Zufall oder das Schicksal Regie geführt oder was es am Ende gar mit dem Teufel zugegangen?
                Der Mord an der Marter schien jenen abergläubischen, gespensterseherischen Waschweibern Recht zu geben, die seit Jahrzehnten steif und fest behaupteten, dass die Gegend hier oben ein bevorzugtes Jagdrevier böser Geister sei, dass ein Fluch auf diesen Fluren läge. Ein sardonisches Lächeln kerbte seine Mundwinkel. Unerklärliches, Übersinnliches war derzeit en vogue. Land auf, Land ab gab es jede Menge Spinner, Phantasten und UFO-Enthusiasten, die an die Existenz übersinnlicher Mächte, an das Wirken von extraterrestrischen Wesen, Dämonen und Geistern glaubten. Sollte er den Mordfall in einem jenseitigen Zwielicht erscheinen lassen, als einen Fall für die X-Akten des LKA? Simon setzte ein Knie auf den Boden, schob den Buchsbaumstrauch zur Seite und las in der verschnörkelten Sütterlinschrift:
                „Sagt es meinen Lieben, sie ahnen es wohl schon, dass im Sterben liegt ihr geliebter Sohn. Euch send ich den letzten Gruß aus sterbender Hand, höchste Erfüllung ist der Tod fürs Vaterland!“
                Er verzog den Mund, als ob er in einen fauligen, wurmstichigen Apfel gebissen hatte:
                „Was ist denn das? Krude Nazi-Poesie oder was?“
                War das hier eine geheime Gedenkstätte für SS-Frontkämpfer? Eine Pilgerstätte für Neonazis? Je intensiver er sich mit Hitlers Entourage, seiner Berghofkamarilla, beschäftigt hatte, desto größer war Simons Abscheu vor dieser widerlichen, braunen Bagage mit ihrem perversen Rassen- und

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