Cruzifixus
Führerkult geworden. Seine vehemente Abneigung gründete in der Erkenntnis, dass sich die Nazi-Clique aus bornierten, gruseligen, klein karierten Spießbürgern rekrutiert hatte, die geistig gesehen absolute Nullen waren und die ewig gleichen platten, pathetischen Parolen von Krieg und Sieg, Kampf und Kohldampf exzerpierten, kompilierten und paraphrasierten. Im rechten Spektrum suchte man vergebens nach Querköpfen und Querdenkern, nach geistreichen, genialischen Köpfen. Die Epigonen eines Eichendorff, eines Heine oder eines Novalis versuchten vergeblich sich einen rechten Reim auf ihren Führer zu machen. Ihr heldenlyrisches Repertoire beschränkte sich auf propagandistische Posen und volkstümliche Possen, die Wunderwelt wahrer Poesie blieb den arischen Nordmannnarzissen verschlossen.
Simon fühlte sich wie der Ausgräber einer antiken Nekropole, dem es endlich gelungen war die kryptischen Schriftzeichen auf Sarkophagen und Ossuarien zu entziffern:
„Zum ewigen Gedenken an unseren geliebten Sohn Rupert Hallhofer, Obergefreiter im ersten bayerischen Gebirgsjägerregiment.“
Seine Stimme stockte:
„In dankbarer Erinnerung an dessen Bruder Rottenführer Koloman Hallhofer, gefallen fürs Vaterland.“
Simons gerunzelte Stirn glich einem wilden Strichmuster:
„Hallhofer? Die sind doch garantiert mit Vinzenz verwandt. Weshalb weiß ich dann nix von den Brüdern? Sonst erzählt er mir doch auch jeden Scheiß!“
Zwischen ihm und seinem alten Sandkastenspezi hatte es nie gröbere Reibereien oder irgendwelche Heimlichtuereien gegeben. Vinzenz war keiner der ein Blatt vor dem Mund nahm. Schon gar nicht, wenn es um seine Verwandtschaft ging, die man sicherlich nicht unter die Virgilswinkler VIPs rechnete: sein Cousin war in die Fußstapfen des Opas getreten. Wie der alte Herr war der Xarre ein „Hundertprozentiger“, der in seinem Hinterhof am Führergeburtstag die Hakenkreuzflagge hisste und in einschlägigen nationalpatriotisch gesinnten Kreisen verkehrte. Der Fonsä, sein Onkel mütterlicherseits, war ein notorischer Raufbold, der sukzessive seinen Verstand und seinen Erbteil versoffen hatte. Seine Eltern waren schon vor Jahren bei dichtem Schneetreiben auf der A 8 tödlich verunglückt. Simon kannte seine Familiengeschichte also in- und auswendig. Wieso hatte Vinzenz die gefallenen Gebrüder nie auch nur mit einer Silbe erwähnt? Das die beiden nicht mit ihm verwandt waren, war höchst unwahrscheinlich. Die Hallhofer-Sippschaft stammte aus Grimmharting, einem Kuhkaff in dem Jahrhunderte des Inzests seine Spuren hinterlassen hatten und jeder mit jedem verwandt war. Ein Haufen sturer Bauernschädel, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel. Eine Sippschaft die ähnlich funktionierte wie die Cosa Nostra oder die Camorra. Hier wie da galt bis heute die „Omerta“ – das Schweigegebot gegenüber Fremden:
„Rupert und Koloman! Zwei Brüder, ein Kreuz! Wer waren die beiden? Täter, Opfer – oder beides? Komparsen oder Akteure im Kriegsspiel? Wieso steht das Gedenkkreuz ausgerechnet hier? Was weiß Vinzenz über diese Sache?“
Simon verstummte. Wie viel Hass, wie viel Wahn und Wut lagen unter der trügerischen Oberfläche der Gegenwart begraben? Was ging in den Köpfen, der vom Krieg Traumatisieren, der als Invaliden, als Krüppel Heimgekehrten vor? War der Schrecken des Krieges in ihnen lebendig geblieben oder war da nur noch ein fernes, feuriges Wetterleuchteten am Horizont? Hatte einer jener Heimkehrer späte Rache geübt und ein Exempel an Paintinger statuiert - und für welches Vergehen, für welchen Verrat war er bestraft worden?
Als er sich aus seiner gebückten Haltung erhob, waren seine Glieder stocksteif. Ein oder zwei Minuten stand er reglos, unfähig einen Entschluss zu fassen. Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass er sich auf einem Holzweg befand. Eine unbestimmte Furcht drängte ihn umzukehren, die ganze Geschichte auf sich beruhen zu lassen. Was kümmerte es ihn wenn jemand den Reigen der Lämmer tanzte? Endlich überwand er den Moment der Schwäche und begann damit die Gegend systematisch abzusuchen. Vielleicht hatten die Beamten der Spurensicherung ja etwas übersehen? Voller Elan schlug er sich in die Büsche, robbte durch einen dichten Fichtenfilz und kämpfte sich durch mannshohe
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