Cruzifixus
Brennnesselfelder. Seine Anstrengungen verliefen im Sande, seine Ausbeute war gleich null: nicht eine rostige Bierdose, nicht ein Fetzen verschissenen Klopapiers. Erschöpft lehnte sich Simon an einen Baumstamm. Hier oben war nichts, denn die Erinnerung an die dunklen Flecken der Vergangenheit.
Die Hand des Herrn
Aqua fons vitae. Wasser ist der Born des Lebens.
Wasser ließ das Korn keimen, die Knospen sprießen, den Frühling erwachen. Es labte den Gaumen, erquickte die Brust und erheiterte das Gemüt. Der sprudelnde Quell, der muntere Bach waren Ursymbole des Strömens, des Wachsens und Gedeihens. Wasser versinnbildlichte die Kraft der Katharsis, stand als Sinnbild für Reinigung und Läuterung. Es war eines der vier alchemistischen Grundelemente - und doch! Das dem Menschengeschlecht innewohnende Verlangen nach höheren Sphären, nach transzendenten Tiefen vermochte es nicht zu stillen. Hierzu bedurfte es eines besonderen Safts, einer elysischen Essenz: Der ober- oder untergärige Gerstensaft war für echte, aufrechte Bajuwaren das einzig wahre Lebenselixier. Den schwerblütigen Bergbewohnern des Virgilswinkels galt der Maßkrug als heiliger Gral, als sakrale Schale aus der man in grauer, keltischer Vorzeit das Blut der im Streit erschlagenen Feinde geschlürft hatte.
Die „Linde“ war einer jener Plätze, an denen sich die Clansmänner versammelten, um sich der Bündnistreue ihrer Stammesbrüder zu versichern und den Göttern ihr rituelles Trankopfer darzubringen. Die Wirtsstube war gerammelt voll. Um Tische und Bänke drängte sich ein wild zusammen gewürfelter Haufen: Promillepropheten, Bierschaumschamanen, Hopfenheilige, Oralapostel. Dicke Schwaden blauen Dunsts ballten sich unter der niedrigen Balkendecke. Aus übersteuerten Boxen dudelte eine bukolische Wildererwaise:
„Da Wilderer vom Pendelstoa des war a Bursch mit Schneid. Er war a Mannsbuid wir a Baam den Maderln eahna Freud. Da Wilderer vom Pendelstoa der war bei uns bekannt. Glei mehra wia da Kini no im ganz’n Bayernland.“
Das Gejodel, Gejohle und Gebrülle, die unartikulierten, tierischen Laute, mochten bei einem uneingeweihten Beobachter den Eindruck entstehen lassen, dass hier ein heidnisches Bacchanal im Gange war. Aus durstigen Kehlen drang heiseres Röhren:
„Marie, bring mir ein Bier! Wo bleibt mein Maß, Zenzi? Zwei Halbe und einen Schnitt!“
Die Kellnerin mühte sich redlich, die biergierige Meute mit Nachschub zu versorgen. Die stämmige Muskelmaid lud sich ein Dutzend Maßkrüge auf ihren wogenden Busen und wirbelte wie ein Derwisch im Dirndl durch die Wirtsstube. In der Stube sah es noch genauso aus wie zu König Ludwigs Zeiten. Wände und Decken waren von der rußigen Schwärze einer Räucherkammer. Eine Schwärze, die das schummerige Licht wie ein nasser Schwamm aufsog und den Raum im Dornröschendämmer versinken ließ. Aus dem Halbdunkel schälte sich das von einem wuchtigen Goldrahmen umschnörkelte Gemälde des „Kini“. Das Licht eines Halogenstrahlers spiegelte sich auf der von fein verästelten Sprüngen überzogenen Firniskruste. Der Märchenkönig trug eine standesgemäße Gala-Garderobe. Um seine breiten Schultern legte sich seidenweich und sahnig eine schneeweiße Pelzstola. Der ahnungsschwer, umschattete Blick des Monarchen richtete sich auf einen in unerreichbare Ferne gerückten Fluchtpunkt. Es war der kummervolle Blick eines Heroen, der sich in einem Netz von Schuld und Sühne, Vergebung und Vergeltung verfangen hatte. Der Kini lauschte versonnen dem wispernden Chor der Genien:
„Omnes ingeniosos melancholicos esse!“
Sein sinnlicher Mund war leicht geöffnet, so als ob er den Menschen zuraunen wollte:
„Numine afflatur – am Göttlichen entzündet sich der Funke, der die Urgründe unseres Seins aufscheinen lässt.“
Es war die Tragik seines Lebens, das er die Stimme des Volkes nicht erhörte und sich so auf ewig unverstanden wähnte.
Im Hinterzimmer des Lindenwirts war die Zeit stehen geblieben, war das Vermächtnis der Väter wie in Bernstein eingeschlossen. In riesigen Schrankvitrinen verblichen fransige, mit güldenen Bordüren bestickte Fahnen und Paniere, setzten Kupfer und Bronze Patina an, verstaubten die Insignien monarchisch, militärischer Pracht und Macht: die
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