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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Stich würde der Entscheidende sein. Wer hatte den letzten Trumpf im Ärmel?
                Seit Jahren traf sich das „kartographische“ Quartett jeden Freitag Punkt Halb Acht in der „Linde“. Dabei verliefen ihre Kartenabende nur in Ausnahmefällen friedlich und harmonisch. In der Regel gab es Zank, Zwist und Streit. Vinzenz und Ewald waren die beiden Widersacher des Dramas um Ober und Unter. Zwei gleich starke, konträre Kräfte, die in ihren Rollen aufgingen, das Kontradiktorische, Widersprüchliche im Wechselspiel der Polaritäten in Reinkultur verkörperten und sich perfekt ergänzten: sie waren wie Hammer und Amboss, wie Sojasemmel und Schlachtschüssel, wie Plus und Minus. Zwischen den beiden elektrischen Polen, zwischen Kathode und Anode flogen die Funken bis die Fetzen flogen. Um das fragile Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten, bedurfte es eines ständigen Balanceakts. Simon und Sebald glichen Äquilibristen, die einen Drahtseilakt auf schwankendem Seil vollbrachten. Sie waren Diplomaten, Parlamentäre und Sekundanten in einer Person. Problematisch daran war nur, dass die Unterhändler am Ende die Zeche für die beiden Streithansel zahlten. Simons „Pechsträhne“ resultierte indes zum Großteil aus seiner riskanten, impulsiven Spielweise. So summierten sich seine Verluste regelmäßig auf 25, 30 Euro. Sebalds „Miese“ hielten sich meist in Grenzen – er verlor in Etwa das, was sein Bruderherz einstrich. So blieb das Geld in der Familie. Richtig Kasse machte nur einer: Vinzenz. Ein echter Zocker: gerissen, unverfroren hintertrieben - und er hatte die nötige Portion Glück im Spiel.
                Vinzenz Emeram Hallhofer war der Spross eines Geschlechts von Haderlumpen, Wirtshaushockern und Raufbolden. Sein siebter Sinn für taktische Varianten und strategische Spielzüge war angeboren. Vinzenz war einer, der sich von niemanden ein X für ein U vormachen ließ – und dem so leicht keiner das Wasser reichen konnte. Simon und Vinzenz waren Sandkastenfreunde, die sich seit fast 40 Jahren zerstritten und wieder versöhnten. Das Band ihrer Freundschaft hatte alle Zerreißproben überstanden. Wenn er sich auf einen verlassen konnte, dann auf ihn. Simon wusste um seine pragmatisch, praktische Ader, seinen Sinn fürs Mystische wie fürs Machbare. Aber auch eine „Lichtgestalt“ hatte ihre Schattenseiten. Vinzenz war ein „Original“ – so eigenbrötlerisch wie eigensinnig, so großmäulig wie bärbeißig, so uneinsichtig wie bockbeinig. Seine Kapricen und Launen waren unberechenbar wie das Bergwetter im April. Wie aus heiterem Himmel bekam er einen seiner cholerischen Anfälle oder überraschte ihn mit irgendwelchen „genialen“, schrulligen Einfällen und vertrat fragwürdige, weltanschauliche Positionen nur um im nächsten Moment alles auf den Kopf zu stellen und seine Ansichten zu revidieren. Vinzenz war ein unverbesserlicher Weltverbesserer und Westentaschenrevoluzzer, der überall Verschwörerbanden am Werk sah, felsenfest an die Existenz von Engeln und Dämonen, an Astralleiber und Ätherwesen, an übersinnliche Erscheinungen und übernatürliche Epiphanien glaubte. Er betrieb irgendwelche abwegigen, grenzwissenschaftlichen Studien, evaluierte heuristische Problemlösungsstrategien und verbiss sich in die Details ontologischer Denkmodelle. In seiner Vorstellungswelt wimmelte es im Virgilswinkel nur so von religiösen Fanatikern, politischen Extremisten, sektiererischen Aufrührern, Umstürzlern und Insurgenten. Vinzenz war eine schillernde, chamäleonartige Figur, der wechselweise den großen Metaphysiker, den tollkühnen Grenzgänger, den genialischen Gelehrten, den unergründlichen Zahlenmystiker oder den monomanen X-Aktenapostel herauskehrte. Beim Schafkopf hörte sich allerdings der spirituelle Spaß auf – und unter der Tünche des Mystikers und Visionärs kam der Geizhammel, Pfennigfuchser und Popelprotz zum Vorschein.
     
    Am Tisch war es so totenstill wie in einem Leichenschauhaus. Es war so still, dass man eine Reißzwecke hätte fallen hören. Simon suchte in den Mienen seiner Mitspieler zu lesen. Vinzenz verbarg seine Gefühlsregungen hinter der empfindungslosen Maske des ausgebufften Kartenhais. Das verkniffene, mürrische Gesicht Ewalds verhieß nichts Gutes - der Sieg schien verspielt. Es bestand dagegen die virulente Gefahr einer vernichtenden Niederlage. Vinzenz schien entschlossen seinen Gegnern den Todesstoß zu versetzen. Simons Gesichtszüge

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