Cruzifixus
er etwas schwer von Geblüt und Gemüt. Begriffsstutzigkeit und Unbedarftheit paarten sich jedoch bei ihm mit Bauernschläue und Hinterkünftigkeit. Er überließ seinem um fünf Minuten älteren Bruder Ewald die Chefrolle, den dominanten, aufbrausenden, jähzornigen Part des Alphatiers. Ewald war ein intransigenter, unnachgiebiger Sturschädel, der nicht mit sich reden ließ, ein rechthaberischer Klotzkopf von vulkanischem Naturell, der auf seinen Standpunkt beharrte, keine Kompromisse ein und mit den Kopf durch die Wand ging. Die Hartnäckigkeit und Hinterfotzigkeit der Brüder gründete in ihren Genen. Vor hunderten von Jahren hatte sich die Inkofler-Sippe in einer ökologischen Nische an den Abhängen des Rauchenbergs eingenistet. In den Wintermonaten verirrte sich selten ein Sonnenstrahl, geschweige denn ein Besucher in die düstre, unwirtliche Gegend. Und im Sommer bot der Schattenhang wenig mehr als matschige, sumpfige Wiesen und karge, öde Fichtenfilze. Ihre Vorfahren waren samt und sonders Troglodyten, tellurische Höhlenbewohner gewesen, Sonderlinge und Querköpfe, die selten ins Tal hinab und unter andere Menschen kamen. Alles Fremde, alles „Auswärtige“ war den rauen Bergbewohnern zutiefst suspekt und zuwider. Neo-Neandertaler wie die Gebrüder Inkofler waren der lebende Beweis, dass Darwin Recht hatte, dass die Evolution gelegentlich auf dem Holzweg und in Sackgassen geriet. Die Folgen dieser randständigen, von den Segnungen der Zivilisation nur ephemer berührten Existenz waren Dumpfsinn und Delirium, Ignoranz und Indolenz, die sich mit dem zweifelhaften Charme von zotteligen Höhlenmenschen und dem Imponiergehabe von Primaten paarten. Ewald knurrte wie ein an der kurzen Leine gehaltener Kettenhund:
„Solo oder Sau?“
Sein Gegenüber ließ sich mit der Antwort demonstrativ Zeit:
„Spiele!“
Sebald meckerte wie ein zahnloser Ziegenbock:
„Und was, bittschön?“
Vinzenz grinste wie ein Petrijünger, der einen dicken Fisch am Haken hat:
„Schellen sticht!“
Sebald rieb seine knotige, von einem fein verzweigten Aderngeäst durchflochtene Knollennase. Seine Wieselaugen weiteten sich, als ob Sie eine Fuchsspur im Hühnerhof entdeckt hatten. Ewalds Augenbrauen wölbten sich zu zwei Zirkumflexzeichen. Die Haarbüschel auf seinen spitzen Fledermausöhrchen flatterten vor Erregung. Er bleckte sein runderneuertes Raubtiergebiss und stieß einen spitzen Kampfschrei aus:
„Schellen Solo? Stoß – und doppelt retour!“
Eine schier unerträgliche Spannung lud die Luft elektrisch auf. Simons spielte im Schnelldurchlauf verschiedene Szenarien durch: Wie waren die Karten verteilt? Welche Schwachstellen wies das gegnerische Blatt auf? Vinzenz schien sich indes der Huld Nikes sicher zu sein. Mit dem frechen, fiesen Lächeln des sicheren Siegers zückte er die Herz Sau:
„Herz hat jeder!“
Tiefe Querfurchen pflügten Simons Denkerstirn. Das As anzuspielen war höchst unorthodox, es zeugte von einer verächtlichen, degoutanten Überheblichkeit! So oder so - er musste Farbe bekennen:
„Da hast dein Herz!“
So als ob er Angst hatte an einer verbotenen Frucht zu naschen, bekaute Sebald seine Unterlippe. Wie ein unerzogner Rotzlöffel maulte er:
„So ein Massel! Zieht der mir doch glatt den Herzspatzen!“
Ewald hatte sichtlich Mühe sein cholerisches Temperament im Zaum zu halten. Die Zornesröte schoss ihm ins pockennarbige Raubvogelgesicht. In ohnmächtigem Zorn schleuderte er eine Karte auf den Tisch – die Herz Zehn! Im Vorgefühl des Triumphs trumpfte Vinzenz mächtig auf:
„Was ist jetzt mit deinem Stoß, du leere Hosen!“
Ein eisiger Wind strich über die verhärteten Fronten. Die beiden Widersacher belauerten sich wie zwei sprungbereite Raubkatzen. Ihre maskenhaften, aus Granit gemeißelten Mienen waren die zweier zu allem entschlossener Duellanten. Hier ging es um mehr als den Sieg, hier ging es um die Ehre, ums Prestige.
Der Kampf der Giganten ging in seine heiße Phase. Bei diesem Ringen der Schwergewichte war Simon nur Statist. Nervös leckte er sich die Lippen. Ihre Chancen standen Fifty-fifty. Der letzte
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