Cruzifixus
Über den beiden Desperados spannten sich die samtschwarzen Stoffbahnen des Sternenzelts, funkelten ferne Gestirne, die zumindest in den Augen der Sternengläubigen das Schicksal des Menschen bestimmten. Das silbrig, seidige Licht, der unirdische Schimmer ließ die Farben vertrocknen, verwandelte die vertrauten Konturen der Strassen und Plätze in nächtliche Traumkulissen. Die Grenzen zwischen Einbildung und Realität verwischten, das eherne Maßband der Zeit krümmte, verbog sich. Was hatte ihnen ihr kauziger, klumpfüßiger, fortwährend mit dem Zollstock herumfuchtelnder Physiklehrer vom Pult aus gepredigt:
„Alles ist relativ! Vor allem Raum und Zeit! Folgt eurer Intuition und benutz euren klaren Menschenverstand, dann begreift ihr die Logik der temporalen Physik. Mediokre Geister erschöpfen sich in der Paraphrase des Plagiats! Findigen, kreativen Geistern fällt selbst etwas ein. Merkt euch das, und ihr habt etwas fürs Leben gelernt.“
Zumindest war das Zeitempfinden subjektiv. In solch sternklaren Nächten wie heute schien die Zeit jedenfalls stillzustehen. Das satinierte Zelluloid der Himmelskuppel sah so unbewegt, so bleich und blass aus, als ob der Filmstreifen des Firmaments fehlerhaft eingelegt war und die Projektorspulen des himmlischen Lichtspielhauses ins Leere liefen. Die Sphärenschalen waren so schwarz und Schwindel erregend wie ein Kellergewölbe, dessen Scheitelpunkt in undurchdringlicher Dunkelheit lag. Die Straßenschluchten durch die beiden nächtlichen Wanderer stadteinwärts strebten, waren so leer wie am Tag nach dem jüngsten Gericht. Ihre Schritte hallten von den Wänden, versickerten im Labyrinth der engen, mittelalterlichen Gassen, die ihre Namen von den dort dereinst ansässigen Handwerkern herleiteten: Loderer-, Blechschmied-, Salzsieder-, Färber-, Schäfflergasse.
Sie querten den Waagplatz und gelangten in einen engen, zwischen baufälligen Patrizierhäusern eingepferchten Hinterhof. Um Sie herum war es so finster wie im Arsch des Antichristen. Das beklemmende Gefühl in einer Falle zu sitzen, von unsichtbaren Feinden umzingelt zu sein, schnürte ihm die Kehle. Simon spitzte die Ohren, spähte aus ängstlich geweiteten Pupillen in die von keinem Lichtstrahl aufgehellte Dunkelheit. Er vermeinte vermummte Gestalten umherhuschen zu sehen, katzengleich schleichende Schritte zu hören. Wieso fürchtete sich der Mensch vor den Schattenseiten der Seele, den Abgründen des Irrsinns, der lähmenden Leere der Nachtgedanken? Woher kam diese ängstliche Scheu vor dem Unbekannten, Unwägbaren, den düsteren, jenseitigen Gestaden? Um sich Mut zu machen, krähte er aus heiserer Kehle die markige Melodie einer ins Ohr gehenden Wilddieb-Moritat:
„Der Wilderer vom Pendelstein, das war a Bursch mit Schneid…“
Hatte sich hinter dem Hauseck nicht etwas bewegt? Simon war starr vor Schrecken. Vom Waagplatz drang ein seltsames Geräusch, als ob ein schweres, mit Bierfässern beladenes Fuhrwerk übers Kopfsteinpflaster rumpelte. Da hörte es aus dem Dunkel zischen:
„Was brüllst denn rum wie ein abgestochenes Kalb? Jetzt komm endlich! Da geht’s lang!“
Vinzenz deutete auf eine spitzbogige, mit eisernem Bandwerk beschlagene Holztür. Er hüstelte, räusperte sich zwei, dreimal. Seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier:
„Beeil dich endlich, fix! Ich leide wahre Tantalusqualen, ich könnte auf einen Sitz ein 20er Banzel Bier leer saufen.“
Schwungvoll riss er die Tür auf, rief im kratzigen Diskant eines zum Kettenraucher gewordenen Orpheus:
„Voilà! Der Eingang zur Unterwelt!“
Eine Steintreppe führte geradewegs hinab in die unterirdischen Katakomben. Der Wände des Gangs waren aus dem Fels gehauen, die Deckengewölbe vom Russ unzähliger Fackeln geschwärzt. Vinzenz klopfte an eine solide Massivholztür. Das Guckloch ging auf und der Türsteher begrüßte Vinzenz wie einen alten Bekannten:
„Bon Soir, Monsieur Hallhofer! Was verschafft uns die unverhoffte Ehre ihres Besuchs?“
Vinzenz zwinkerte den von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gewandeten „Höllenjungen“ amüsiert zu und betrat mit Simon im Schlepptau den in diffuses, rötliches Licht getauchten Schummerschuppen. Um
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