Cruzifixus
die hufeisenförmige Theke scharten sich ein paar ausgehungerte Party-Löwen, die nach Frischfleisch Ausschau hielten. Über die Tanzfläche huschten geisterhafte Lichtkegel. Alle paar Sekunden wechselten die Leuchtstrahler ihre Farben und ließen die sich spiralig um ihre eigene Achse windenden Vampirballerinas in blutrotem, schilfgrünem oder sandfarbenen Licht aufscheinen. Ein paar pfiffige Event-Gastronomen hatten den seit Jahrzehnten leer stehenden Weinkeller zu einer Club-Lounge umgebaut. Ursprünglich sollte der Latex-Laden „Unfehl-Bar“ heißen. Um Konflikten mit radikalchristlichen Gruppierungen aus dem Weg zu gehen, hatten die Macher ihrem „Kellerkind“ einen unverfänglicheren Namen verpasst: „Zur Unterwelt“. Die Architekten der „Unterwelt“ hatten sich einiges einfallen lassen, hatten einen Sinn fürs Kaprizierte und Manierierte, fürs Makabre und Morbide bewiesen. Die Gestaltung des Interieurs schien den Phantasiewelten König Ludwigs entsprungen zu sein. Im Bereich der Bar hing ein großformatiges, in metallisch schimmernden Leuchtfarben schwelgendes Airbrush-Gemälde. Der Maler hatte sich dem surrealistischen Stil verschrieben und ein allegorischen Sujet gewählt: mit langen, schlohweißen Kapuzenmänteln bekleidete Gestalten standen schweigend um ein marmorweißes Grabmal inmitten einer arkadischen Paradieslandschaft. Ihre Gesichter verbargen sich hinter venezianischen Schnabelmasken. Sinnierend betrachteten die stummen Beter die Inschrift auf der Grabplatte: Et in Arcadia ego! Selbst im Elysium hält Thanatos die Wacht. Die mit gepolsterten Sitzbänkchen wohnlich gemachten Wandnischen waren mit einem babylonischen Bilderreigen ausgemalt. Die Figuren waren etwas schablonenhaft geraten, zeugten aber dennoch von großem Gestus und starker, expressiver Ausdruckskraft: ein mit erigiertem Penis zwischen erschrockenen Nymphchen herumhüpfender Silen; eine auf dem siebenköpfigen Tier der Apokalypse reitende Teufelsbuhlin; ein sich im Sündenpfuhl suhlendes, den Freuden des Fellatio frönendes Pärchen. Flur-, Wasser und Waldgeister ergötzten sich an einem dämonischen Danse macabre. Pan blies auf seiner Flöte, ein bocksfüßiger Satyr haute auf die Pauke, eine Efeu bekränzte Hetäre rasselte mit dem Sistrum. Dionys selbst führte den wilden Reigen der Dryaden, Najaden und Plejaden an, versetzte die von ihm entführte Nymphenschar in eine komatöse Trance, um Sie für die große, bacchanalische Orgie gefügig zu machen.
In der Nische des Bacchanals hockten Vinzenz und Simon. Um bei dem Höllenlärm etwas verstehen zu können, steckten Sie die Köpfe zusammen. Vinzenz schlürfte irgendein giftgrünes Gesöff aus dem Cocktailglas:
„Bei den Phallus-Partys geht’s hier zu wie im Taubenschlag!“
Simon nickte mechanisch. Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Es klirrte, sirrte und schwirrte über den brodelnden Brodem der Bässe:
„Et resurrexit tertia die secundum scripturas. Et ascendit in coelum, sedet ad dexteram Dei Patris.“
Simon beugte sich vor, formte seine Hände zu einem Schalltrichter:
„Ist das Motiv nicht aus der h-Mollmesse von Bach?”
Vinzenz brüllte ihm ins Ohr:
„Freitags ist Chillout Classic angesagt! Da spielt der DJ Remix-Nummern von klassischen Komponisten: Brahms, Bruckner, Wagner – na du weißt schon! Cool ist auch die Apocalyptic Ambient Night – immer Sonntag.“
Argwöhnisch beschnüffelte Simon die rubinrote Flüssigkeit in seinem Weinglas. Das Gesöff sah verdächtig aus, obwohl ihm der Bar-Beau mit blasierter, despektierlicher Miene versichert hatte, dass es sich um einen im Eichenfass ausgebauten Rioja Crianza handele. Sein Verdacht, dass der Fusel aus dem Chemielabor von Sancho Pancha stammte, bestätigte sich bereits beim ersten Schluck. Das moussierende Gebräu beleidigte den Gourmetgaumen und betäubte die Geschmacksnerven. Simon verzog seinen Mund, als ob man ihm ein paar Wermutstropfen auf die Zunge geträufelt hatte. Sollte er sich beim Barmann beschweren oder den bitteren Kelch einfach stehen lassen? Vinzenz schien sein „Planter’s Punsch“ zu munden. Jedenfalls schnalzte er genießerisch mit der Zunge:
„Probier mal! Haut echt rein das Zeug!“
Im beiläufigen Ton erkundigte sich der
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