Cruzifixus
stolperte Sie über ihre eigenen Füße. Ihr schriller, entsetzter Aufschrei ließ die Köpfe der Kartler herum rucken. Der blonde Thekenengel geriet ins straucheln, verlor die Balance und das Malheur nahm unaufhaltsam seinen Lauf. Die fünf Maßkrüge in ihren Armen kippelten und kippten. Es war, als ob sämtliche Schleusen eines Stauwehrs gleichzeitig geöffnet wurden und das Hochwasser aus allen Toren schoss. Mit der Wucht eines Tsunamis schäumte die Bierwelle über den Tisch und ergoss sich über Ewalds plissiertes Trachtenhemd, schwappte über seine eng sitzende Lederhose, lief die strammen Waden hinab, um sich in seinen Haferlschuhen zu sammeln. Wie von der Kreuzotter gebissen sprang er auf:
„Kreuzkruzifix! Pass doch auf, du saudumme Schlampe!“
Die Hopfenhostess stammelte irgendwelche unverständlichen Entschuldigungen auf Serbisch oder Mazedonisch. Vinzenz ergriff die Gelegenheit sich als ritterlicher Ehrenmann zu erweisen und das arme Ding aus Nis, Novi Pazar oder Mostar in Schutz zu nehmen:
„Du bist mir ein sauberer Galan! Erst machst du dir ins Hemd und dann in die Hosen. Kein Wunder, dass du bei den Damen keinen Stich machst!“
Was zuviel war, war zuviel! Ewald trat einen Schritt vor und warf sich in Positur. Seine Zähne knirschten wie dünnes Eis unter den Schlittenkufen:
„Komm her du Dreckhammel! Ich patsch dir eine, dass du dich nicht mehr fängst!“
Die Bedienung wich ängstlich zurück, spürte mit unfehlbarer, weiblicher Intuition, dass Hader und Streit in der Luft lag. Sie machte auf den hohen Absätzen kehrt und trat überstürzt den Rückzug an. Vinzenz ließ sich indes nicht lange bitten. Blitzschnell schnellte er nach vorn und warf sich mit der Gewandtheit eines Geparden und dem Mut eines Löwen auf den Feind. So leicht ließ sich Ewald jedoch nicht übertölpeln. Er wich dem überhastet vorgetragenen Angriff mit einer leichten Körperdrehung aus, so dass Vinzenz mit Karacho gegen den Nachbartisch stieß. Die vier grobknochigen, vierschrötigen Gesellen, die mit stumpfen, dumpfen Machomienen um den Tisch herum hockten, hatten nur auf einen Grund zur Intervention gewartet. Ihr Wortführer, ein bärtiges Muskelpaket vom Aussehen Goliaths, der auf den „Kosenamen“ Saurus hörte, ergriff die Initiative:
„Wie haben wir’s denn? Kannst du Dreckskrüppel nicht anklopfen, bevor du mit der Tür ins Haus fällst.“
Damit waren die Präliminarien auch schon beendet. Saurus holte zum präventiven Erstschlag aus und versetzte den noch orientierungslos in den Seilen hängenden einen Magenschwinger, dass sich Vinzenz rückwärts auf den Boden setzte. Die Aktion des ungeschlachten Goliaths rief wiederum Ewald auf den Plan:
„Aus welcher Versitzgrube haben Sie denn dich herausgezogen? Lasst nicht gleich meinen Spezi los! Der Vinz verstehst, war schon immer mein allerbester Freund.“
Wenn Sie sich auch untereinander bis aufs Messer bekriegten, so hielt das Quartett bei drohender, äußerer Gefahr doch zusammen wie Pech und Schwefel. Ewald und Sebald stellten sich vor Vinzenz und fuhren dem Muskelprotz in die Parade:
„Was ist jetzt, du wamperter Hosenscheißer?“
Das freche, fürwitzige, anmaßende Betragen der Gebrüder Inkofler brachte das Muskelmonster in Rage. Saurus schnaubte vor Wut:
„Sag das noch einmal, du halbe Portion! Kommt’s Mannen, die Wunderstumpen machen wir platt!“
Sekunden später war eine wüste Wirtshauskeilerei in Gange, die erst Minuten später durch das beherzte, rigorose Eingreifen des Wirts, seines Schankkellners und eines Detachements der Gebirgsschützenkompanie beendet werden konnte.
Viel Feind, viel Ehr. Vinzenz und Simon leckten ihre Wunden, betasteten ihre im Kampf davon getragenen Blessuren. Sie sahen aus wie Karikaturen zweier gezauster Galgenvögel, die an den Ufern des Acheron oder des Cocytus gestrandet waren. Zu ihren Füßen gurgelte die Söller Ache gegen die massiven Felsblöcke der Uferbefestigung. Über ihnen wölbten sich die Silhouetten exotischer Baumriesen aus den Bergen Chinas. Rainfrieds Urgroßvater Gustav Gottfried von Reichinger hatte die Schösslinge Ende des 19. Jahrhunderts von
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