Cruzifixus
Cocktail-Cocteau:
„Ist dir das Bild draußen im Flur aufgefallen?“
„Der gruselige Glanzlackschinken mit den betenden Kapuzentypen?“
Vinzenz schien sich auf jedoch keinen Diskurs über das Für und Wider der modernen Kunst einlassen zu wollen:
„Scheiß auf den Stil! Es geht ums Motiv: das Grab vor einer idealisierten Landschaft. Sagt dir der Name Nicolas Poussin etwas?“
Simon schüttelte den Kopf und riet aufs Geratewohl:
„Ein Franzose, Barockzeit, am Hof von Versailles?“
Der Blick des alten „Jenseitsjägers“ bekam einen verklärten Ausdruck, so als ob er dabei war seinen Eleven in die Geheimlehren der Gnosis einzuführen:
„Poussin gehörte dem inneren Führungszirkel der Prieuré, den Weisen von Zion, an. Er war ein profunder Kenner der antiken Mythologie und ein praktizierender Okkultist, der um das Geheimnis der „Serpent rouge“, den tellurischen Energieadern in der Erdkruste wusste! In seinem Metier entwickelte er eigens eine Theorie modaler Bildkomposition, die besagt, dass ein Gemälde nicht nur ästhetischen Kriterien genügen muss. Ihm ging es in seinen Arbeiten vielmehr um ein allegorisches Programm, um philosophische Einsichten in die Wesenhaftigkeit der Dinge. Sein bekanntestes Gemälde „Die Schäfer von Arkadien“ enthält eine solch, ikonographisch verschlüsselte Botschaft!“
Simon verharrte in der Pose des Beichtvaters, der den Bekenntnissen des reumütigen Sünders lauscht:
„Das Original hängt im Pariser Louvre. Ein unspektakuläres Genrebild, das jedoch den Schleier des Geheimnisvollen aufreißt und den Blick auf eine mythologisch bedeutsame Szene am Grab lenkt. Vier Hirten stehen auf langen Stäben gestützt da und deuten auf die in Stein gemeißelte Inschrift: Et in Arcadia Ego. Bei der Inschrift handelt es sich um ein kryptisches Anagramm: I Tego Arcana Die. Ich verberge die Geheimnisse Gottes! Ein Fingerzeig auf den einzig wahren, heiligen Gral.“
Die Geheimnisse Gottes, den heiligen Gral? Hellhörig geworden strich sich Simon über den ins Kraut schießenden Oberlippenbart. Die von ihm am Tatort „geschossenen Bilder“ tauchten wie Schemen vor seinem inneren Auge auf. Wer kam auf die abnorme Idee, die Leiche des Toten auf solch grässliche Weise zu schänden, um den Gekreuzigten zu verhöhnen? Welchen Zweck verfolgte diese exhibitionistische, blasphemische Zurschaustellung der Leichenteile am Kreuz? Die medienwirksame Inszenierung sollte offensichtlich Abscheu erregen – aber weshalb? Wollte der Mörder jemand warnen oder wollte er ein Zeichen geben, einen Hinweis auf ein verborgenes Geheimnis?
Simon schaute ins Glas, sah wie sich die Umrisse seines Doppelgängers in den ölig schimmernden Schlieren spiegelten:
„Der heilige Gral! Da musst du recherchieren!“
Simon wölbte seine buschigen Brauen, maß sein Gegenüber mit den aufmerksamen Blicken eines eine seltene Form neurotischer Zwangsvorstellungen diagnostizierenden Irrenarztes:
„Was weißt du eigentlich über Paintinger?“
Vinzenz schnaubte unwillig:
„Der Panther? Was ich von dem halte? Ein Macht gieriger, großkotziger Geldsack! Eine hinterfotzige Drecksau wie er im Buch steht. Früher oder später findet jede Sau ihren Metzger!“
Simon sann über den synonym verwendeten Begriff von „Sau“ und „charakterlosem Mensch“ nach. Woher rührte diese negative Konnotation? Weil das liebe Borstenvieh mit wahrer Wonne im Dreck herumwühlte und seinen Rüssel überall hineinsteckte?
„Wieso fällt es dem Metzger erst jetzt ein, die Sau abzustechen?“
Vinzenz senkte die Stimme, flüsterte wie ein von den Häschern eines verbrecherischen Geheimbunds Verfolgter:
„Simon, die Sache stinkt zum Himmel! Der Paintinger hat Wildererblut in den Adern gehabt. Von der Jagd hat er etwas verstanden. Er muss den Mörder gekannt haben, sonst hätte er sich sein Fell nicht so leicht über die Ohren ziehen lassen!“
Vinzenz lächelte so gemein und hinterhältig wie ein Winkeladvokat, spreizte die Finger und sah
Weitere Kostenlose Bücher