Cruzifixus
weiter?“
Birnbacher konnte seine Erregung nicht mehr bezähmen:
„Und? Man hat ihn umgebracht, ja regelrecht abgeschlachtet!“
Placidus Birnbacher hielt nichts mehr in seinem Polstermöbel. Hochgradig erregt lief er auf und ab, hob die Arme zu einer flehentlichen Geste:
„Der gewaltsame Tod von Paulus Paintinger hat mich und meine Brüder zutiefst aufgewühlt! Der Ermordete hat unsere karitativen Projekte mit Sach- und Geldspenden großzügig unterstützt. Ein selbstloser, vom Geist christlicher Mildtätigkeit durchdrungener Ehrenmann und ein Freund unseres Ordens! Ich bitte Sie inständig: nehmen Sie sich dieses Falls an, Padre!“
Hatte er recht gehört, hatte der Abt das wirklich gesagt? Pio lehnte sich zurück und ließ Birnbacher wie einen fetten Spiegelkarpfen im Netz zappeln:
„Nun ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Es ist jedoch keineswegs gesagt, dass das besagte Buch in irgendeinem Zusammenhang mit dem Mord steht.“
Der Abt wedelte aufgeregt mit den Armen herum:
„Aber Padre, dieser Verdacht wird durch evidente Tatsachen gestützt. Seit längerem betrachte ich die Umtriebe einiger schwarzer Schafe im Priesterrock mit Sorge. Es gibt konkrete Hinweise, dass zumindest einer unserer Brüder vom Pfad des Glaubens abgewichen ist und intimen Umgang mit Satanisten pflegt, die schwarze Kunst der Goetia praktiziert und die dämonischen Mächte der dunklen Seite beschwört. Aber, hören Sie selbst!“
Er schien einige Passagen und Perikopen des Thomas-Textes auswendig gelernt zu haben. Jedenfalls deklamierte er die in seinen Augen anstößigen Stellen mit dem Pathos des verhinderten Propheten:
„Jesus sprach zu seinen Jüngern: Vergleicht mich mit jemandem und sagt mir, wem ich gleiche! Da sagte Simon Petrus: Du gleichst einem gerechten Engel. Matthäus aber sprach: Du gleichst einem klugen Philosophen. Da rief Thomas: Völlig unfähig bin ich, in Worte zu fassen, wem du gleichst Meister. Jesus aber widersprach: Ich bin nicht dein Meister. Erkenne das, was dir vor Augen liegt, und das, was vor dir verborgen ist, wird sich dir enthüllen. Denn es gibt nichts Verborgenes, das sich nicht offenbaren wird.“
Birnbacher hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. In seine Hamsterbäckchen schoss das Blut:
„Das ist infam! Das sind gnostische Lügenlehren, die da verbreitet werden! Christus verurteilt die heidnischen Mysterienkulte! Er erteilt den elitären Glauben an eine Initiation eine strikte Absage. Jeder der reinen Herzens ist, hört die Stimme des Herrn. Dazu bedarf es keines falschen Voodoo-Zaubers!“
Pio strich sich über den dünnen Flaum auf seiner Oberlippe:
„Bedenkt Hochwürden, schon unter den frühchristlichen Gemeinden gab es gnostische Strömungen. Die Mystik war von jeher ein Weg Gott zu schauen. So heißt es im Markus-Evangelium: Nichts ist verborgen, das nicht offenbar würde, und nichts wurde versteckt, das nicht aufgedeckt würde. Die Analogie ist unverkennbar!“
Der Abt wischte seine Einwände mit einer wegwerfenden Handbewegung vom Tisch:
„Wir beide wissen, dass die Kirche kein monolithischer Block ist. Der Vatikan mag von außen wie ein totalitärer Apparat mit einem Autokraten an der Spitze erscheinen. Dabei ähnelt die Kurie in Wahrheit eher einem bürokratischen Moloch. Und draußen in der Diaspora blüht eine bunte Vielfalt von mehr oder weniger autonomen Gruppen und Gruppierungen. Nehmen Sie nur die diversen Ordenskongregationen von teils obskurer Observanz oder die zahllosen von Laien organisierten Vereinigungen, Zirkeln und Bruderschaften. Sie sind Legion! Gerade in den Randbereichen und Grauzonen der Kirche, in neuapostolischen, theosophischen oder theurgischen Kreisen sucht man den Geist Gottes mit mystischen Meditationstechniken zu erfahren. Diese visionären Sekten wollen zurück zu den angeblich gnostischen Ursprüngen der Lehre Jesu, zum reinen Quell der Erkenntnis.“
Mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen dozierte Pio:
„In scripturas veritas est!“
Birnbacher griff das Stichwort auf und kam wieder auf die häretischen
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