Cruzifixus
entgegenbrachte. Auch Birnbacher schien langsam Vertrauen zu den in sich gekehrten, grauhaarigen Gelehrten zu fassen:
„Jesus lehrt uns, dass wir in Verfolgung schweigen, das Unrecht erdulden sollen! In schwierigen, krisenhaften Zeiten, in Krieg und Verfolgung hat die Kirche stets Stärke, Opfermut und selbstlosen Einsatz für die Entrechteten und Geknechteten gezeigt und sich mit aufopferungsvoller Hingabe um die Schwachen und Leidbeladenen gekümmert! In solchen Zeiten erfährt man die Botschaft Jesu und die Güte Gottes wohl noch intensiver als sonst!“
Sein Sermon erstarb in einem tiefen, demutsvollen Seufzer:
„Das Rückgrat der Kirche bilden die großen Mystiker und Märtyrer, die ihr Blut hingegeben haben, um Zeugnis für den rechten, wahren Glauben abzulegen. Leider ist man in Rom und anderswo dazu übergegangen, jene Akte selbstloser Opferbereitschaft als Anachronismus zu belächeln.“
Daher wehte der Wind! Der Abt outete sich als reaktionärer Traditionalist, der wohl insgeheim in radikalchristlichen Kreisen verkehrte und sich mit irgendwelchen Bruderschaften vom heiligen Blut Christi solidarisierte:
„Wo die Not am größten ist, strahlt die Herrlichkeit des Herrn am hellsten.“
Pio musterte sein Gegenüber mit spöttischem Blick: der pausbäckige, wohlbeleibte Schreibtischmärtyrer schien nicht zu darben oder am Hungertuch zu nagen. Mit ironischem Unterton stichelte er:
„Ihre Begeisterung in allen Ehren, aber bitte verraten Sie mir: Was hat ihr Anliegen mit den heiligen Märtyrern zu tun?“
Sogleich bedauerte er, die Verdienste der christlichen Märtyrerfraktion nicht genügend gewürdigt zu haben. Der Abt gab den Gekränkten, mimte den Brüskierten:
„Welch immenser Blutopfer bedurfte es, um das Dunkel des heidnischen Götzenkults mit der Fackel des Glaubens zu erhellen. Wie viele wackere Streiter Christi mussten ihr Leben lassen, weil Sie Licht ins dämonische Dunkel brachten! Aber lassen wir das!“
Der Abt schürzte seine vollen, sinnlichen Lippen. Er schien jedes seiner Worte auf der Goldwaage wägen zu wollen:
„Kurzum: Ich bin in großer Sorge! In unserer Abtei geschehen merkwürdige, ja besorgniserregende Dinge. Ein böser Geist vergiftet die Atmosphäre, sät Missgunst und Misstrauen und erfüllt die Herzen meiner Mitbrüder mit Zweifel und lässt sie am Glauben irrewerden. Ich als Seelenführer muss den Dämon der Zwietracht, des Neids und der Misshelligkeit austreiben!“
Pio hatte der langatmigen Kanzel- und Kathederrede nur mit einem Ohr gelauscht, jetzt aber spitzte er die selbigen. Zumal er hoffte, dass Birnbacher wie dereinst die Märtyrer Licht in die dunklen Geschäfte Paintingers bringen würde. Doch er sah sich in seinen Erwartungen getäuscht – die Machinationen Paintingers wurden mit keiner Silbe erwähnt:
„Fällt Ihnen an diesem Traktat etwas auf? Auf dem ersten Blick ist nichts Außergewöhnliches zu erkennen, doch bei näherer Betrachtung…“
Der Abt bedeutete ihn mit einem Fingerzeig das anstößige Objekt zu inspizieren. Während seiner langen Laufbahn als Agent Christi war er immer wieder auf apokryphe, verbotene Bücher gestoßen, die häretisches, ketzerisches Gedankengut enthielten. Die Religion der „heiligen Schriften“ war augenscheinlich dazu verdammt, gegen die Hydra der „Gottessucher“ und „Jesusjünger“ anzukämpfen, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihre Version der „reinen Lehre Christi“ zu Papier und unters Volk zu bringen. Es war eine Sisyphusaufgabe – aber einer musste Sie ja tun. Mit verdrießlicher Miene machte er sich an die Arbeit: ein Blick genügte, um seinen Anfangsverdacht zu bestätigen: der Buchdeckel ähnelte einen Sarkophagdeckel, unter dem sich eine unsachgemäß einbalsamierte Mumie verbarg: das Papier wies Wasserflecken und Wurmspuren auf. Die Blätter waren verklebt, die Ränder vom Zahn der Zeit respektive von scharfen, spitzen Mäusezähnchen angenagt. Drucker und Setzer waren Pfuscher, der Graveur ein Dilettant gewesen: die von stümperhafter Hand ausgeführten Stiche zeugten von einem mangelhaften Verständnis für Proportion und Perspektive. Auch beim Druck hatte man es mit
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