Cruzifixus
Schriften der „Prophezeiung“ zu sprechen:
„Sie haben Recht! Kommen wir wieder auf unser Buch zurück! Das zweite, an die Logiensammlung anschließende Kapitel stammt aus der Feder eines Barfüßermönchs der sich selbst Frater Solo nennt. Das so genannte Lehrstück schimpft sich „Wahre Belehrung des gemeinen Christenmenschen“ und strotzt nur so vor haarsträubenden Rechtschreibfehlern, vor fehlerhaften, grammatikalischen Satzkonstruktionen und einer abstrusen, mit aus der Luft gegriffenen Bildern operierenden Metaphorik. Das Ganze wirkt so, als ob sich ein Halbgebildeter im Zustand des Delirium diabolis über die Geheimnisse des Glaubens auslässt!“
Mit voller Absicht ließ er eine sarkastische Spitze aufblitzen:
„Und wer war dieser schreibgewaltige Frater?“
„Ein verschrobener Einsiedler der ein paar Jahre nach dem Krieg verstarb und der Eremiten-Kongregation der Augustiner-Diskalzeaten angehörte. Die hiesigen Barfüßerbrüder hausen seit Jahrhunderten in ihrer Klause oben in Hochharting. Dereinst betreuten Sie die Wallfahrer und nahmen seelsorgerische Aufgaben wahr. Unser Waldbruder scheint jedoch in der Nachbarschaft von Fuchs und Hase, seine poetische Begabung entdeckt zu haben. Einige Kostproben gefällig?“
Maliziös grinsend schlug Birnbacher das Buch auf:
„Gottes Wort muss Herz, Hirn, Haut, Haar, Gebein, Mark und Saft durchdringen. Erst wenn das Herz bloß und leer von Selbstsucht ist, brennt ihm der Herr mit dem feurigen Eisen der Erkenntnis seinen unverrückbaren Willen ein. Wunderbare Dinge werden mitten unter uns geschehen. Denn von hier wird die neue Kirche ausgehen – und wir werden Gottes auserwähltes Volk sein, als ein Spiegel der ganzen Welt!“
Pio kamen diese gnostisch, dualistischen Parolen im Geiste von Theomachen und Sektenführern wie Marcion, Novatian oder dem Phrygier Montanus bekannt vor. Frater Solo redete der Kirche von unten das Wort. Birnbacher schnaubte wie ein Asthmatiker dessen Inhalator nicht richtig funktionierte:
„Es sind immer die eingebildeten Heiligen, die sich selbst überhebenden Asketen die sich zu Propheten und Visionären berufen füllen. Wer sich im Besitz einer tieferen Einsicht in das Wesen Gottes wähnt, der ist meist ein verkappter Sendbote Satans.“
Da klopfe es an der Tür. Im barschen Befehlston rief der Abt:
„Kommen Sie herein Severin! Das hat aber gedauert!“
Der schüchtern um sich blickende Kandidat, wie die Novizen heute hießen, trug ein Tablett vor sich her. Mit einer etwas linkisch und steif wirkenden Verbeugung trat er neben den Tisch, servierte ihnen Tee und stellte ein Zuckerdöschen, eine Karaffe bernsteinfarben schimmernden Rums sowie ein Schälchen mit Gebäck dazu. Unter devoten Ehrbezeugungen zog sich der Juniormönch zurück. Ungerührt löffelte Birnbacher die halbe Zuckerdose leer. Offenbar war der Abt ein „Süßer“:
„Probieren Sie, Padre! Feinster Darjeeling aus unser ordenseigenen Plantage an den Hängen des Himalaya!“
Er entkorkte die Karaffe und goss etwas Rum in die Tasse:
„Sie kennen den Katalog der Kardinaltugenden. Das Gebot der Temperantia, der Mäßigkeit verlangt einen einiges ab!“
Insgeheim verachtete Pio Typen wie Birnbacher, die ihren Appetit nicht zügeln, ihren Rand nie voll bekommen konnten. In punkto Essen und Trinken hielt er sich streng an asketische Grundsätze:
„Wie ist das Buch in den Besitz ihres Gönners gelangt. Wie hieß der Mann gleich wieder?“
Der Abt trug die Leidensmiene Christi zur Schau:
„Paul Paintinger! Leider hat mir der Verblichene nicht mitgeteilt, wo und wann er das Buch erworben hat. Vormals befand es sich wohl im Besitz der Barfüßer-Brüder. Darauf deuten zumindest zwei Inventarvermerke vom Ende des 19. Jahrhunderts und aus den 50er Jahren hin. Ich halte es für plausibel, dass der derzeitige Klausner Teile der Bibliotheksbestände verscherbelt hat, zumal der alte Herr ein rechter Dickschädel ist, der seine eigenen, etwas sonderlichen Ansichten über Gott und die Welt vertritt.“
Pio reckte sein Kinn kämpferisch
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