Cruzifixus
sich deprimiert, desillusioniert. Auf dem Glastisch vor ihm lag ein Hochglanzprospekt: Reihen von Rebstöcken wellten sich bis zum himmelblauen Horizont, aus dem satten Grün der Weinblätter leuchtete das verheißungsvolle Violett reifer Trauben. Der schwungvolle Schriftzug verkündete:
„Ars Vitae, Ars Vini!“
Der Geniestreich des unbekannten Werbetexters entlockte ihm ein müdes, mokantes Lächeln. Er zerblätterte das Prospekt, zerhackte die stereotypen Metaphern:
„Ein Wein wie das Land. Ein Wein wie das Leben. Dieser Spitzen-Cuvée besitzt eine große Farbintensität mit purpurnen Tönen und Granatreflexen. Sein volles und kräftiges Aroma lässt den Fassausbau mit Röst- und Vanillenoten erschmecken, um später Würznuancen wie Pfeffer und Gewürznelke Platz zu machen, mineralische Aromen vom Schiefergrund des Bodens hervorzulocken.“
Die Typografie der Brunello-Broschüre war eine einzige Katastrophe. Ellenlange Angebotslisten auf schiefergrauem Grund wechselten mit billigen Reproduktionen antiker Sujets: Bacchus inmitten einer wilden Orgie, Bacchus inmitten rasender Mänaden, Bacchus inmitten einer tanzenden Nymphenschar – und stets mit erigiertem, wie eine Lanze aufgerichtetem Glied. Das Konzept war klar: das erotische Element sollte von der nackten Prosa der Preislisten ablenken. Kopfschüttelnd knurrte er:
„Beste Weine, beste Preise. Probieren, Profitieren Sie!“
Simon überflog die Listen, hielt indes vergeblich Ausschau nach den avisierten Schnäppchen:
„Chardonnay aus kontrolliert ökologischem Anbau 9,90, Gran Riserva Punta Cerrada 7,95, Barolo Cantina di Pino 18 Euro.“
Simon pfiff durch die Zähne:
„Nicht schlecht, der Specht! Die Burschen langen zu!“
Wieder fühlte er den Weltschmerz in seiner Brust: die Welt der materiellen Dinge war und blieb eben ein Ort der Schlechtigkeit. Und wer war – zumindest nach Urteil der Kabbalisten und Gnostiker schuld an der materialistischen Misere – die Übeltat des Demiurgen. Er wog Für und Wider, Pro und Contra gegeneinander ab und kam zum Schluss, dass er seinen Wein weiterhin beim Discounter ums Eck kaufen würde. Simon beförderte den Flyer mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb. Er fühlte eine lähmende Entschlusslosigkeit, wusste nicht recht womit er anfangen, wie er die fragmentarischen Bruchstücke des Puzzles zusammensetzen sollte. Ließ sich irgendwo ein Ariadne-Fädchen einflechten? Simon schnappte sich sein Diktiergerät, ließ sich vom Staccato-Rhythmus der Alliterationen mitreißen:
„Der Marterl-Meuchler, der Jesus-Jedi, der Salon-Satan. Was treibt ihn an? Fanatischer Hass, blinde Wut, krankhafter Wahn? Tötet er auf Befehl, handelt er im Auftrag? Oder handelt es sich um einen Irrsinnigen, der seine abartigen Phantasien auslebt? Wieso wählt er ein Marterl für den Showdown? Wieso mordet er unter den Augen Jesu?“
Simon drückte auf Stopp. War der Kerl ein perverser Psychopath, ein neurotischer Wiederholungstäter, ein Serial K, der nach einen bestimmten Strickmuster vorging? Nach welchen Kriterien suchte er sich seine Opfer? Gefiel er sich in der Rolle des Rächers, des schwarzen Engels? Das Profil des Täters war das eine, das Motiv der andere Aspekt der Tat. Simon diktierte:
„Wer wollte Paintingers Tod – und wer profitierte davon? Ging es um Macht, um geheime Machenschaften? Hatte ihn ein wütender Widersacher, ein geprellter Geschäftsfreund, ein eifersüchtiger Nebenbuhler auf der Abschussliste? Oder steckte mehr dahinter? Eine Intrige, eine Kabale, eine Verschwörung gar?“
Scharfkantige, wie von der Klinge eines Dolchs gezogene Furchen zerschnitten seine Denkerstirn. Omertà! Seine Gedanken kreisten um das geheimnisvolle Schweigegelübde der Mafia wie ein Schwarm Mönchsgeier über der Beute. Hatte Paintinger das Schweigen gebrochen, hatte er „gesungen“? Und wenn: Weshalb? Nachdenklich rieb er sich die Stoppeln seines rudimentär rasierten Kinns. Endlich stellte er sich die faustische Frage:
„Was will uns der Täter sagen? Was beabsichtigt er mit dieser schockierenden Inszenierung von Gewalt?“
Krampfhaft suchte er nach
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