Cruzifixus
Typographie und Satzspiegel nicht allzu genau genommen. Die Buchstaben kippten nach hinten, torkelten und taumelten durch die Weiten der Bleiwüste. Pio kniff die Augen zusammen:
„Die geoffenbarte Prophezeiung unseres Herrn Jesu Christi.“
Ihm lag eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge. Diese wurmstichige, stockfleckige Ketzerfibel konnte dem Abt wohl kaum schlaflose Nächte bereiten. Was verheimlichte er vor ihm? Was bezweckte Birnbacher mit dieser Farce? Beim weiterblättern sprang ihm die Imprimatur-Punze des päpstlichen Zensors ins Auge: zwei Schlüssel, die “claves petri”, darüber die Tiara und darunter das Plazet der Zensurbehörde:
„Con licenza de Superiori Biblioteca Apostolica Vaticana.“
Ehe er den Stempel genauer unter die Lupe nehmen konnte, ließ sich Birnbacher aus dem Hintergrund vernehmen:
„Bei dem Imprimaturzeichen handelt es sich um eine plumpe Fälschung! Die „geoffenbarte Prophezeiung“ kam im Jahr 1665 auf den Index der „Librorum Prohibitorum“! Als Laie fällt es mir schwer festzustellen, wer die Verfasser waren oder wo der Band gedruckt wurde. Es besteht hingegen nicht der geringste Zweifel, dass dieser hochgradige häretische Text niemals die Approbation der heiligen Inquisition erhalten hätte!“
Der entrüstete Hobby-Inquisitor schnitt ihm das Wort ab:
„Meiner Ansicht nach diente die „Prophezeiung“ den Sektenbrüdern als Apologie. Ein kruder Ketzer-Katechismus, der in der Art einer Anthologie häretische Bruchstücke unterschiedlicher Provenienz kompiliert: Herzstück ist eine Sammlung von Logien. Angebliche Aussprüche aus dem Munde Jesu, die nicht in den kanonischen Schriften aufscheinen. Im Prolog beteuert der Verfasser, dass es sich um die deutsche Übersetzung der lateinischen Abschrift eines aramäischen Papyrus handelt, den ein beherzter Tempelritter in einer Höhle am Berg Nebo im Lande Moab entdeckt habe. Der Autor der Logien sei niemand anderes als der Apostel Thomas!“
Trocken und emotionslos schlussfolgerte Pio:
„Das fünfte Evangelium des Didymos Judas Thomas!“
Die Wangen des Abts glühten wie im Fieber:
„Das Thomas-Evangelium. Und zwar nicht etwa in der koptischen Übersetzung, sondern im Original, dass quasi die ipsissima vox Jesu zitiert!“
Das leichte, erregte Beben in der Stimme, der überspannte, exaltierte Unterton ließen ihn stutzig werden. Hatte ihn Birnbacher wegen diesem Schund zu sich rufen lassen? Zog der Abt etwa ernsthaft in Erwägung, dass dieser drittklassige Ketzerkack den Seelenfrieden ein paar verschreckter Mönche störte oder am Ende noch die Einheit der katholischen Kirche gefährdete? In ihm keimte der Verdacht, dass Birnbacher nicht richtig tickte. Pio fixierte sein Gegenüber mit dem kühlen, geschäftsmäßigen Interesse eines Irrenarztes:
„Wissen Sie, es scheint mir ein zeitgeistiger Modetrend zu sein, sich mit okkulter Emblematik zu umgeben, mit magischen Amuletten und gold glitzernden Pentagrammen zu behängen, das Tetragrammaton auf den Boden zu kritzeln und die Geister des Bösen anzurufen. Druidische Rituale, Hexen-Happenings, schwarze Messen - all das ist heute en vogue. Um Luzifer zu beschwören braucht es schon etwas mystisches Hokuspokus und das ein oder andere zerknitterte Pergament. Ohne etwas Kulissenzauber lockt man heutzutage keine schwarze Katze mehr hinter dem Ofen vor.“
Der Abt schnappte nach Luft und starrte ihn entgeistert an wie ein Epileptiker nach einem Anfall:
„Padre, ich bitte Sie, hören Sie mich an! Ich weiß es klingt seltsam, aber Sie müssen die Begleitumstände, die Hintergründe kennen, ehe Sie sich ein Urteil bilden. Das Buch wurde uns von privater Seite überlassen. Der Vorbesitzer hat mich um ein persönliches Gespräch gebeten und mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass er sich bedroht, ja verfolgt fühlt, seit er im Besitz dieses Buches ist. Und was passiert…“
Der Abt schien um Fassung zu ringen. Geduldig wie ein von Geburt auf zu Gleichmut und Selbstbeherrschung erzogener Samurai erkundigte sich Pio mit einfühlsamer Stimme:
„Und was
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