Cruzifixus
vor:
„Wie meinen Sie das? Denken Sie, dass er in den Fall involviert sein könnte?“
Abt Placidus strich sich durch den Bart:
„Das kann ich mir nur schwerlich vorstellen. Pater Ägidius ist zwar ein schwieriger Mensch, um nicht zu sagen ein halsstarriger, querköpfiger Eigenbrötler, dem es an Verständnis für die heutige Zeit mangelt, aber er ist ein guter, wenn auch etwas engstirniger Christ. Wenn es nach dem werten Pater ginge, müsste die Kirche das Zinsverbot wieder einführen und die kapitalistische Wirtschaftsweise samt den Götzen Mammon in Bausch und Bogen verdammen. Für ihn sind alle die Geld verleihen oder mit Wertpapieren handeln, Wucherer, Schacherer und Blutsauger, die die ehrlichen Leute um die Früchte ihrer Arbeit betrügen.“
Pio lächelte dünn:
„Und was halten Sie von dem Toten. War er einer dieser Profitmacher, die ihr Pater an den Pranger gestellt hat?“
Der Abt stellte die Tasse auf den Tisch:
„Nun Paintinger war sicher kein Ausbund christlicher Tugend. Er war ein gerissener Geschäftemacher. Andererseits: Geld regiert die Welt. Und wenn man in dieser Welt etwas bewirken will, muss man sich bis zu einem gewissen Grad deren Regeln und Gepflogenheiten anpassen.“
Er musterte den Abt mit den durchdringenden Blicken eines Großinquisitors. Birnbacher schien verstanden zu haben, nach welchen Gesetzen die Mechanik der Macht funktionierte:
„Ich werde mich der Sache annehmen – unter einer Bedingung: Wenn Ihnen etwas zu Ohren kommt, wenn ihnen etwas im Zusammenhang mit dem Mordfall anvertraut wird, dann will ich es wissen – und zwar ohne wenn und aber!“
Der Abt nestelte an seinem mit Edelsteinen besetzten Brustkreuz herum, kräuselte seinen sorgfältig gestutzten Kinnbart:
„Als Erstes könnte es hilfreich sein, Dechant Dirrigl einen Besuch abzustatten. In Folge seiner administrativen und fiskalischen Tätigkeiten hielt er engen Kontakt zu dem Verstorbenen.“
Placidus Birnbacher schien zu zögern eine Indiskretion zu begehen:
„Der Dechant ist ein umsichtiger, strebsamer Mann, der über beste Beziehungen zum Diözesanrat und zum Finanzdirektor des Ordinariats verfügt und das vorbehaltlose Vertrauen des Archidiakons genießt. Dennoch halte ich ihn persönlich für jemand, dem man nicht sein vollstes Vertrauen schenken sollte.“
Der Abt senkte seine Stimme wie ein Beichtiger im Beichtstuhl:
„Es liegt mir fern einen verdienstvollen Diener der Kirche anzuschwärzen, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Dirrigl vor ein paar Monaten ins Fadenkreuz der Staatsanwaltschaft geraten ist. Es wird ihm vorgeworfen Steuern hinterzogen und Gelder aus karitativen Einrichtungen abgezweigt zu haben. Ob diese Vorwürfe jedoch in irgendeinem Zusammenhang mit den ketzerischen Umtrieben oder dem Mordfall stehen, wage ich nicht zu beurteilen!“
Pio hatte gute Lust seinen Ärger Luft zu machen. In welchen Scheißhaufen war er da hineingetappt, in welches Wespennest hatte er da gestochen? Dominikus Dirrigl war sein V-Mann. Hatte der die Nerven verloren oder trieb er ein doppeltes Spiel?
Die einschmeichelnde Stimme des Abts ließ ihn hochfahren:
„Noch etwas Tee, Padre?“
Plötzlich wünschte er sich weit weg, in irgendeine schummerige American Bar auf den Antillen mit einem Dry Martini in der Hand.
Die Kraft des Kreuzes
Tacere multis discitur vitae malis! Das im Leben erfahrene Leid heißt einen schweigen!
Selbiges galt für die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit, des eigenen Unvermögens. Wie in Zeitlupe hob Simon den Kopf, starrte mit schwermütigen Blicken zum Fenster hinaus. Das Land lag unter einer leichengrauen Wolkendecke, die kein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte. Zu allem Überfluss goss es in Strömen, tropfte es wie aus lecken Eimern, plätscherte es seit Tagen ohne Unterlass vor sich hin. Die Kühe auf der Weide mümmelten mürrisch vor sich hin. Der Oböd-Bauer hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Simon ließ sich in die Polster seiner Couchecke fallen, blieb mit hängenden Schultern sitzen. Er fühlte
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