Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
klang sie gedämpft und seltsam abgehackt. Wie früher das
Pling
, das anzeigte, wenn man eine Märchenplatte umdrehen musste. Es war Viertel nach neun, gerade spät genug, um sie vielleicht schon aus dem Bett zu holen.
»Wer ist da, bitte?«, fragte meine Mutter mit schriller Stimme.
»Hi, Momma. Ich bin’s, Camille.« Ich versuchte, ruhig zu sprechen.
»Camille.« Sie öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Sie wirkte nicht überrascht und machte auch keine Anstalten, mich zu umarmen, nicht mal schlaff und lustlos wie sonst. »Ist was passiert?«
»Nein, Momma, alles klar. Ich habe beruflich hier zu tun.«
»Beruflich. Beruflich? Mein Gott, Liebes, tut mir leid, komm doch rein. Leider bin ich nicht auf Besucher eingerichtet.«
Das Haus war perfekt, bis hin zu den Vasen mit Dutzenden von Tulpen, die die Diele schmückten. Die Luft war so voller Pollen, dass mir die Augen tränten. Natürlich fragte meine Mutter nicht, welche beruflichen Angelegenheiten mich hergeführt hatten. Sie neigte ohnehin nicht zu tiefer gehenden Fragen. Entweder nahm sie übertriebene Rücksicht auf die Privatsphäre anderer Menschen oder interessierte sich einfach nicht für sie. Welche Alternative mir besser gefiel, kann sich jeder selbst überlegen.
»Möchtest du etwas trinken, Camille? Alan und ich nehmen gerade einen Amaretto sour.« Sie deutete auf das Glas in ihrer Hand. »Ich gebe ein bisschen Sprite dazu, das unterstreicht die Süße. Ich habe aber auch Mangosaft, Wein, Eistee oder Eiswasser. Oder Mineralwasser. Wo übernachtest du?«
»Jetzt, wo du mich fragst: Ich hatte eigentlich gehofft, ich könnte ein paar Tage bei euch bleiben.«
Pause. Ihre langen blassrosa Fingernägel klickten gegen das Glas. »Sicher, das ist in Ordnung. Warum hast du nicht angerufen, dann hätte ich Bescheid gewusst und dir etwas zum Abendessen gemacht. Sag Alan hallo. Wir sitzen hinten auf der Veranda.«
Sie ging vor mir durch den Flur, vorbei an Wohnzimmer, Salon und Lesezimmer, alles in leuchtendem Weiß gehalten. Ich betrachtete sie von hinten. Wir hatten uns seit beinahe einem Jahr nicht mehr gesehen. Meine Haare waren braun statt rot, was sie gar nicht zu bemerken schien. Sie selbst sah aus wie früher, kaum älter als ich, obwohl sie auf die fünfzig zuging. Blass schimmernde Haut, langes blondes Haar und hellblaue Augen. Wie die Lieblingspuppe eines kleinen Mädchens, mit der nie gespielt wird. Sie trug ein langes rosa Baumwollkleid und weiße Pantöffelchen und ließ den Amaretto sour im Glas kreisen, ohne einen Tropfen zu verschütten.
»Alan, Camille ist hier.« Meine Mutter verschwand in der kleineren hinteren Küche (im Haus gibt es zwei), und ich hörte, wie sie Eiswürfel aus einer Metallschale brach.
»Wer?«
Ich spähte lächelnd um die Ecke. »Camille. Tut mir leid, dass ich so hereinplatze.«
Man sollte meinen, ein hübsches Ding wie meine Mutter hätte einen baumlangen Ex-Footballspieler geheiratet. Neben einem stämmigen Giganten mit Schnurrbart hätte sie einfach toll ausgesehen. Doch Alan war fast noch dünner als meine Mutter, und seine Wangenknochen traten so stark hervor, dass die Augen beinahe wie Schlitze wirkten. Wenn ich ihn sah, hätte ich ihm am liebsten eine Infusion verpasst. Er war stets wie aus dem Ei gepellt, selbst wenn er abends einen Drink mit meiner Mutter nahm. Er saß da, spindeldürre Beine in weißen Safarishorts, den babyblauen Pullover lässig über das gestärkte Oxford-Hemd drapiert. Er schwitzte überhaupt nicht. Alan ist das absolute Gegenteil von feucht.
»Camille, was für eine Freude«, murmelte er mit seiner monotonen Stimme. »Du hier in Wind Gap. Dachte, du ziehst die Grenze bei allem, was südlich von Illinois liegt.«
»Ich bin beruflich hier.«
»Beruflich.« Er lächelte, was bei ihm einer Frage am nächsten kam. Meine Mutter tauchte wieder auf, das Haar mit einer blassblauen Schleife zurückgebunden, ein erwachsenes American Darling Girl. Sie drückte mir ein Glas prickelnden Amaretto in die Hand, tätschelte zweimal meine Schulter und setzte sich neben Alan, weit weg von mir.
»Es geht um die Mädchen, Ann Nash und Natalie Keene«, sagte ich. »Ich berichte für meine Zeitung darüber …«
»Oh, Camille.« Meine Mutter brachte mich zum Schweigen und wandte sich ab. Man merkt gleich, wenn sie verärgert ist, weil sie dann an ihren Wimpern zupft. Manchmal reißt sie sich auch welche aus. Als ich ein Kind war, gab es einige schwere Jahre, in denen sie fast
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