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Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Titel: Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Flynn
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eine Story so sehr gewollt, und ich wollte unbedingt beweisen, dass ich sie liefern konnte. Die Keenes würden es ohnehin nie erfahren. Wer liest schon unsere Zeitung?
    Gemurmelte Grüße und parfümierte Umarmungen in der Kirche ›Our Lady of Sorrows‹, einige Frauen nickten mir höflich zu, nachdem sie meine Mutter umsäuselt hatten (wie tapfer von Adora, dass sie gekommen war) und zusammengerückt waren, um ihr Platz zu machen. ›Our Lady of Sorrows‹ ist eine funkelnde katholische Kirche aus den 70 er Jahren, voller Gold, Bronze und Juwelen wie ein Ring aus dem Kaugummiautomaten. Wind Gap trotzt als winziger katholischer Außenposten den umliegenden Hochburgen des Baptismus, denn der Ort wurde von Iren gegründet. Die klügeren McMahons und Malones, die während der großen Hungersnot in New York gelandet waren und dort schlechte Erfahrungen gemacht hatten, zogen nach Westen. In St. Louis regierten bereits die Franzosen, also bogen sie nach Süden und gründeten dort eigene Städte. Während der Wiedereingliederung der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg wurden sie ohne viel Federlesens erneut vertrieben. Missouri war ein unruhiger Staat, der sein südliches Erbe abschütteln und sich als braver sklavenfreier Staat neu etablieren wollte, also setzte er die unbequemen Iren samt anderen Unerwünschten vor die Tür. Ihren Glauben ließen sie jedoch zurück.
    Noch zehn Minuten bis zum Gottesdienst, vor der Tür bildete sich eine Schlange. Ich betrachtete die Menschen in der Kirche. Etwas störte mich. Kein einziges Kind war zu sehen. Keine Jungen in dunklen Hosen, die Spielzeugautos über die Beine ihrer Mütter fahren ließen; keine Mädchen, die Stoffpuppen umklammerten. Kein Gesicht unter fünfzehn. Ich wusste nicht, ob es aus Rücksicht auf die Eltern geschah oder aus Angst. Aus dem Instinkt heraus, die eigenen Kinder zu schützen, damit niemand sie als zukünftige Beute ausspähte. Ich stellte mir die Söhne und Töchter Wind Gaps vor, wie sie in dunklen Kammern versteckt wurden und am Handrücken saugten, während sie fernsahen und unbemerkt blieben.
    Da sie sich nicht um ihre Kinder kümmern mussten, wirkten die Kirchgänger seltsam starr, wie Pappkameraden, die lebende Menschen ersetzten. Hinten sah ich Bob Nash im dunklen Anzug. Wieder ohne Frau. Er nickte mir zu, dann runzelte er die Stirn.
     
    Die Orgelpfeifen verströmten die gedämpften Töne von
Der Herr sei mein Hirte
, und Natalie Keenes Familie, die sich bis dahin in Türnähe umarmt und geweint hatte, drängte sich eng zusammen. Nur zwei Männer waren nötig, um den glänzend weißen Sarg zu tragen.
    Natalies Eltern führten den Trauerzug an. Sie war ein gutes Stück größer als er, eine warmherzig wirkende Frau, die das rotblonde Haar zurückgebunden trug. Sie hatte ein offenes Gesicht wie jemand, den Fremde spontan nach Weg oder Uhrzeit fragen. Mr. Keene war klein und dünn, sein rundes Kindergesicht wurde noch runder durch die Nickelbrille, die an ein goldenes Fahrrad erinnerte. Hinter ihnen ging ein gutaussehender Junge von achtzehn oder neunzehn, schluchzend, mit gesenktem braunen Kopf. Natalies Bruder, flüsterte eine Frau hinter mir.
    Meiner Mutter liefen die Tränen übers Gesicht und tropften vernehmlich auf die Ledertasche in ihrem Schoß. Ihre Banknachbarin tätschelte ihre Hand. Ich zog den Notizblock aus der Jackentasche und begann zu kritzeln, bis meine Mutter mir auf die Hand schlug und zischte: »Das ist respektlos und peinlich. Hör auf, sonst schicke ich dich raus.«
    Ich hörte auf zu schreiben, behielt den Block aber trotzig in der Hand. Doch ich war rot geworden.
    Der Trauerzug kam an uns vorbei. Der Sarg wirkte lächerlich klein. Ich stellte mir Natalie dort drinnen vor, sah wieder ihre Beine – flaumig, mit knubbeligen Knien und Heftpflaster. Ein kurzer, scharfer Schmerz durchfuhr mich, wie ein Punkt am Ende eines Satzes.
    Während der Geistliche das Eröffnungsgebet sprach und wir aufstanden und uns wieder setzten, wurden Totenzettel verteilt. Vorn beleuchtete die Jungfrau Maria das Jesuskind mit ihrem roten Herzen, auf der Rückseite stand:
    Natalie Jane Keene
    Geliebte Tochter, Schwester und Freundin
    Der Himmel hat einen neuen Engel
    Neben dem Sarg stand ein großes Foto von Natalie, das förmlicher wirkte als jene, die ich kannte. Sie war ein nettes, unscheinbares Ding mit spitzem Kinn und leicht vorquellenden Augen, ein Mädchen, das später vielleicht seltsam reizvoll geworden wäre. Dann hätte sie die Männer

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