Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
winziges Grübchen im Kinn. Er tippte zweimal mit seinem Fuß auf meinen.
»Was gibt’s, rasende Reporterin?«
»Ich muss unbedingt etwas wissen. Ganz dringend, und wenn du es mir nicht sagen kannst, dann eben nicht, aber denk bitte drüber nach.« Er nickte.
»Hast du eine bestimmte Person vor Augen, wenn du an den Täter denkst?«
»Einige sogar.«
»Mann oder Frau?«
»Warum liegt dir so viel daran, das zu erfahren?«
»Ich muss es einfach wissen.«
Er überlegte, trank einen Schluck, rieb sich das stoppelige Kinn.
»Ich glaube nicht, dass eine Frau die Mädchen auf diese Weise umgebracht hätte.« Wieder tippte er auf meinen Fuß. »He, was ist los mit dir? Heraus damit.«
»Ich weiß nicht, allmählich drehe ich durch. Ich wollte nur wissen, worauf ich mich konzentrieren muss.«
»Lass mich dir helfen.«
»Wusstest du, dass die Mädchen dafür bekannt waren, dass sie Leute bissen?«
»Die Schule hat einen Vorfall erwähnt, bei dem Ann den Vogel einer Nachbarin umgebracht haben soll«, antwortete er. »Natalie wurde wegen der Dinge, die in ihrer vorherigen Schule geschehen waren, an der kurzen Leine gehalten.«
»Natalie hat jemandem, den sie kannte, das Ohrläppchen abgebissen.«
»Mir liegen keine Anzeigen gegen Natalie vor.«
»Der Vorfall wurde nicht angezeigt. Ich habe das Ohr gesehen, Richard, das Läppchen fehlt tatsächlich, und die Person hatte keinen Grund, mich anzulügen. Ann hat übrigens auch jemanden angegriffen. Gebissen. Allmählich frage ich mich, ob die Mädchen damit vielleicht einfach an die falsche Person geraten sind. Mir kommt es so vor, als hätte man sie eingeschläfert wie bösartige Tiere. Vielleicht wurden ihnen deshalb die Zähne gezogen.«
»Mal langsam. Erstens, wen haben die Mädchen gebissen?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Verdammt nochmal, Camille, das ist nicht komisch. Sag’s mir.«
»Nein.« Sein Zorn überraschte mich. Ich hatte damit gerechnet, er werde lachen und sagen, wie hübsch er mich finde, wenn ich trotzig sei.
»Scheiße, hier geht es um Mord! Wenn du Informationen hast, musst du sie mir geben.«
»Mach deine Arbeit selbst.«
»Das versuche ich ja, aber dass du Spielchen mit mir spielst, ist nicht gerade hilfreich.«
»Jetzt weißt du mal, wie sich das anfühlt«, murmelte ich kindisch.
»Na schön.« Er rieb sich die Augen. »Hatte einen anstrengenden Tag … also gute Nacht. Hoffentlich war ich dir von Nutzen.« Er stand auf und schob mir sein halbvolles Glas hin.
»Ich brauche eine offizielle Stellungnahme von dir.«
»Später. Ich muss nachdenken. Vielleicht hast du recht – das mit uns ist keine gute Idee.« Er ging raus, und die Jungs riefen, ich solle wieder rüberkommen, aber ich schüttelte den Kopf, trank aus und tat, als würde ich mir Notizen machen, bis sie gegangen waren. Doch ich schrieb immer nur
kranke Stadt kranke Stadt
, und das auf über zwölf Seiten.
Diesmal erwartete mich Alan. Er saß auf dem viktorianischen Zweiersofa aus schwarzem Walnussholz mit dem weißen Brokatbezug, elegant in weißer Hose, Seidenhemd und zierlichen weißen Pantoffeln. Wäre dies ein Foto gewesen, hätte man es unmöglich zeitlich einordnen können – viktorianischer Gentleman, Dandy aus der edwardianischen Ära, Schönling aus den Fünfzigern? Oder ein Hausmann aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, der nie arbeitete, häufig trank und gelegentlich mit meiner Mutter schlief.
Es kam selten vor, dass Alan und ich uns allein unterhielten. Als Kind war ich mal im Flur mit ihm zusammengestoßen, und er hatte sich steif heruntergebeugt und »Hallo, ich hoffe, es geht dir gut« gesagt. Damals wohnten wir schon über fünf Jahre im selben Haus, und das war alles, was ihm einfiel. »Ja, danke«, mehr brachte ich nicht heraus.
Jetzt aber schien er mich tatsächlich wahrzunehmen. Er sagte nichts, klopfte nur neben sich aufs Sofa. Auf den Knien balancierte er einen Kuchenteller mit großen silbrigen Sardinen. Ich roch sie schon an der Tür.
»Camille«, er stocherte mit einer winzigen Fischgabel an einem Schwanz herum, »du machst deine Mutter krank. Ich muss dich bitten, das Haus zu verlassen, falls sich die Situation hier nicht bessert.«
»Wie mache ich sie denn krank?«
»Indem du sie quälst. Ständig von Marian anfängst. Du kannst nicht in Gegenwart einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, spekulieren, wie die Leiche ihres Kindes im Grab aussehen mag. Vielleicht kannst du solche Dinge aus der Distanz betrachten, Adora
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