Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Mutter geschmacklos, so dass wir die Sommermonate schwitzend ertragen müssen. Zweiunddreißig Grad, aber ich fühlte mich in der Hitze sicher, so als ginge ich unter Wasser.
Im Kopfkissen war noch eine kleine Kuhle. Ihre Kleidungsstücke waren so angeordnet, als läge dort ein lebendes Kind. Violettes Kleid, weiße Strumpfhose, schwarze Lackschuhe. Wer hatte das gemacht – meine Mutter? Amma? Der Infusionsständer, der Marian in ihrem letzten Lebensjahr so unbarmherzig verfolgt hatte, stand wachsam und glänzend neben der übrigen medizinischen Ausstattung: dem Bett, das ein Stück höher war als üblich, um den Pflegern die Arbeit zu erleichtern; Herzmonitor, Bettpfanne. Ich fand es widerlich, dass meine Mutter dieses Zeug behalten hatte. Ein klinisches, absolut lebloses Zimmer. Man hatte Marians Lieblingspuppe mit ihr begraben, eine große Stoffpuppe mit Locken aus gelbem Garn, die zu ihren eigenen passten. Evelyn. Oder hieß sie Eleanor? Die anderen Puppen lehnten auf Regalen an der Wand wie Sportfans auf einer Tribüne. Es waren etwa zwanzig, mit weißen Porzellangesichtern und tiefen Glasaugen.
Ich konnte Marian mühelos in diesem Zimmer heraufbeschwören: im Schneidersitz auf diesem Bett, klein, verschwitzt, mit violetten Ringen um die Augen. Sie mischte Karten, kämmte ihrer Puppe die Haare oder malte wütend etwas an. Ich höre noch immer das Geräusch: ein Buntstift, der tiefe Rillen ins Papier gräbt. Dunkles Gekritzel, das Papier zerreißt. Sie sieht mich an, atmet flach und mühevoll.
»Ich hab es satt zu sterben.«
Ich flitzte zurück in mein Zimmer, als wäre jemand hinter mir her.
Das Telefon klingelte sechsmal, bis Eileen abhob. Die Currys besitzen keinen Mikrowellenherd, keinen Videorekorder, keine Spülmaschine, keinen Anrufbeantworter. Ihr Hallo klang sanft, aber angespannt. Sie wurden wohl nicht oft nach elf Uhr angerufen. Eileen tat, als wären sie noch wach gewesen und hätten das Telefon nur nicht gehört, doch es dauerte zwei Minuten, bis Curry an den Apparat kam. Ich sah ihn vor mir, wie er die Brille an der Schlafanzughose blankrieb, alte Lederpantoffeln überstreifte, auf das erleuchtete Zifferblatt des Weckers schaute. Ein tröstliches Bild.
Dann fiel mir ein, dass es aus einem Werbespot für eine 24 -Stunden-Apotheke in Chicago stammte.
Seit drei Tagen hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich war schon fast zwei Wochen in Wind Gap. Normalerweise hätte er mich dreimal täglich angerufen, um nach Neuigkeiten zu fragen, brachte es aber nicht über sich, mich hier im Haus meiner Mutter anzurufen, unten in Missouri, was für ihn vermutlich gleichbedeutend mit dem tiefen Süden war. Normalerweise hätte er mich angeknurrt, weil ich mich nicht regelmäßig meldete, doch nicht an diesem Abend.
»Alles klar, Kleines? Was macht die Kunst?«
»Ich habe es noch nicht offiziell, das kommt noch. Für die Polizei ist der Täter aber definitiv männlich, ein Einheimischer, und sie haben keine DNA , keinen Tatort, eigentlich gar nichts. Entweder ist der Mörder ein Superhirn, oder er hat einfach Glück gehabt. Die Stadt hat sich auf Natalies Bruder John eingeschossen. Seine Freundin behauptet, er sei unschuldig.«
»Gut gemacht, aber ich dachte eigentlich … an dich. Ob es dir da unten gutgeht. Du musst es mir sagen, weil ich dein Gesicht nicht sehen kann. Mach nicht einen auf hart und unerschütterlich.«
»Toll fühle ich mich nicht, aber was macht das schon?« Meine Stimme klang schriller und bitterer als beabsichtigt. »Es ist eine gute Story, und ich glaube, ich stehe kurz vor dem Durchbruch. Noch ein paar Tage, eine Woche … keine Ahnung. Die Mädchen sollen Leute gebissen haben. Das weiß ich erst seit heute, und der Bulle, mit dem ich Kontakt habe, hatte keinen Schimmer davon.«
»Und du hast es ihm gesagt? Wie hat er reagiert?«
»Gar nicht.«
»Verdammt, warum hast du dir kein Statement von ihm besorgt?«
Weil Detective Willis der Ansicht war, ich würde Informationen zurückhalten. Daher hat er sich beleidigt verzogen, wie es Männer zu tun pflegen, wenn Frauen, mit denen sie herumgemacht haben, plötzlich nicht nach ihrer Pfeife tanzen.
»Ich hab’s vermasselt. Aber ich kriege noch was. Für den nächsten Artikel brauche ich noch ein paar Tage. Mehr Lokalkolorit, Infos über diesen Bullen. Ich glaube, sie hoffen insgeheim, dass die Presse Schwung in die Sache bringt. Nicht dass jemand hier unten unser Blatt lesen würde.« Oder oben in Chicago.
»Sie
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