Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
kennst den Typ, bisschen wie Alan.«
Sie warf noch einen Schokoriegel ein und wackelte mit den Zehen, die ich in der Hand hielt. »Als deine Mutter dich bekam, hätte sie eigentlich unten durch sein müssen.« Es klang vorwurfsvoll, als hätte ich bei einer einfachen Aufgabe versagt. »Jedes andere Mädchen in Wind Gap, das sich vor der Hochzeit hätte schwängern lassen, wäre erledigt gewesen. Aber irgendetwas brachte andere dazu, deine Mutter zu verhätscheln. Und zwar alle – nicht nur die Jungs, auch die Mädchen, deren Mütter, die Lehrer.«
»Warum wohl?«
»Camille, Schätzchen, ein schönes Mädchen kommt mit allem durch, wenn sie es geschickt anstellt. Das solltest du eigentlich wissen. Überleg mal, was Jungs im Laufe der Zeit für dich getan haben, Dinge, die sie ohne dein schönes Gesicht nie getan hätten. Und wenn die Jungs nett sind, sind die Mädchen auch nett. Adora spielte diese Schwangerschaft brillant aus: stolz, aber auch ein wenig gebrochen, und sie gab sich sehr geheimnisvoll. Dein Daddy kam zu diesem einen verhängnisvollen Besuch, und dann haben sie einander nie wiedergesehen. Deine Momma hat nie darüber gesprochen. Du gehörtest ihr von Anfang an ganz allein. Das hat Joya umgebracht. Endlich besaß ihre Tochter etwas, das sie nicht in die Finger bekommen konnte.«
»War meine Mutter seltener krank, nachdem Joya gestorben war?«
»Eine Weile lief es ganz gut«, sagte Jackie über den Rand ihres Glases. »Aber als Marian dann da war, hatte sie ja auch keine Zeit mehr, krank zu sein.«
»War meine Mutter …« Ich spürte, wie mir ein Schluchzen in die Kehle stieg, das ich mit verwässertem Wodka hinunterspülte. »War meine Mutter … ein netter Mensch?«
Jackie warf einen weiteren Schokoriegel ein. »Das willst du also wissen? Ob sie nett war?« Kurze Pause. »Was glaubst du denn?«
Jackie wühlte in der Schublade, öffnete drei Packungen, nahm aus jeder eine Tablette und ordnete sie der Größe nach auf dem linken Handrücken an.
»Keine Ahnung. Ich war nie richtig eng mit ihr.«
»Treib keine Spielchen mit mir, Camille, das ist ermüdend. Natürlich warst du eng mit ihr. Aber wenn du deine Momma für einen netten Menschen hieltest, würdest du ihrer besten Freundin wohl kaum diese Frage stellen.«
Jackie drückte die Tabletten der Größe nach in einen Schokoriegel und schluckte sie damit. Auf ihrer Brust lagen Papierchen verstreut, die Oberlippe war noch immer tomatenrot, und an ihren Zähnen klebte eine dicke Karamellschicht. Ihre Füße in meinen Händen begannen zu schwitzen.
»Tut mir leid, du hast recht«, sagte ich. »Meinst du, sie ist … krank?«
Jackie hörte auf zu kauen, legte die Hand auf meine und holte seufzend Luft.
»Ich spreche es jetzt laut aus, weil ich schon viel zu lange darüber nachgedacht habe und meine Gedanken mir manchmal Streiche spielen. Sie flutschen einfach weg. Als wollte man mit bloßer Hand Fische fangen.« Sie beugte sich vor und drückte meinen Arm. »Adora verschlingt einen, und wenn man sich dagegen wehrt, wird es noch schlimmer. Sieh dir an, was mit Amma passiert. Was mit Marian passiert ist.«
Ja.
Knapp unter meiner linken Brust prickelte
Bündel.
»Ehrlich?«
Sag es.
»Ich halte sie für krank, und ihre Krankheit für ansteckend«, flüsterte Jackie. Das Eis in ihrem Glas klirrte, weil ihre Hände so zitterten. »Und ich glaube, es ist Zeit, dass du verschwindest, Häschen.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein.«
»Aus Wind Gap, meine ich. Du bist hier nicht sicher.«
Keine Minute später schloss ich die Tür, während Jackie noch auf ihr Porträt starrte, das sie vom Kaminsims angrinste.
14 . Kapitel
I ch fiel beinahe die Treppe vor Jackies Haus hinunter, so wacklig war ich auf den Beinen. Hinter mir hörte ich ihre Jungs, die keuchend die Football-Hymne der Calhoon High anstimmten. Ich bog um die nächste Ecke, parkte unter einer Gruppe Maulbeerbäume und legte den Kopf aufs Lenkrad.
War meine Mutter wirklich krank gewesen? Und Marian? Und Amma und ich? Manchmal glaube ich, in jeder Frau versteckt sich eine Krankheit und wartet nur auf den richtigen Moment, um auszubrechen. Mein ganzes Leben lang hatte ich es mit kranken Frauen zu tun gehabt. Frauen mit chronischen Schmerzen und Frauen, in denen ständig neue Krankheiten reiften. Frauen mit
Zuständen
. Männer brechen sich die Knochen, leiden unter Rückenschmerzen, werden ein- oder zweimal im Leben operiert, bekommen Mandeln herausgenommen und
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