Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
die zwanzig Dollar in die Hand drücken.
Ich kannte die Frau, die mir die Tür öffnete. Geri Shilt, sie war eine Klasse über mir gewesen. Genau wie Gayla trug sie eine gestärkte Schwesterntracht und hatte noch immer das runde, rosa Muttermal auf der Wange, wegen dem ich sie stets bedauert hatte. Als ich Geri sah, wäre ich am liebsten wieder ins Auto gestiegen und weggefahren. Und doch blieb ich da.
»Hi, Camille, was kann ich für dich tun?« Anders als die übrigen Frauen in Wind Gap schien sie sich überhaupt nicht für das zu interessieren, was mich hergeführt hatte. Vermutlich fehlte es ihr an Freundinnen zum Tratschen.
»Hi, Geri, ich wusste gar nicht, dass du bei den O’Neeles arbeitest.«
»Woher auch«, sagte sie trocken.
Jackie hatte kurz hintereinander drei Söhne bekommen, die jetzt Anfang zwanzig sein mussten. Ich erinnerte mich an fleischige Jungs mit dickem Hals, die immer Sporthosen aus Polyester und dicke goldene Highschool-Ringe mit leuchtend blauem Stein trugen. Alle drei hatten Jackies abnorm runde Augen und den strahlend weißen Überbiss geerbt. Jimmy, Jared und Johnny. Mindestens zwei von ihnen waren wohl für die Ferien nach Hause gekommen, ich hörte sie im Garten Football spielen. Geris aggressiver Blick verriet mir, dass sie ihnen am liebsten aus dem Weg ging.
Warum war sie in Wind Gap geblieben? Ich war hier so vielen bekannten Gesichtern begegnet, Mädchen, mit denen ich aufgewachsen war und die nie die Kraft gefunden hatten, von hier wegzugehen. In dieser Stadt blieben die Menschen genügsam, sofern man sie mit Kabelfernsehen und Supermarkt mästete. Diejenigen, die geblieben waren, lebten in ebenso verschiedenen Welten wie früher. Alberne, hübsche Mädchen wie Katie Lacey wohnten in renovierten Herrenhäusern, spielten im selben Tennisklub wie Adora und pilgerten vierteljährlich zum Einkaufen nach St. Louis. Und dann gab es die hässlichen Mädchen wie Geri Shilt, ewige Opfer, die noch heute hinter den Reichen aufräumten und mit düster gesenktem Kopf auf weitere Beleidigungen warteten. Das waren Frauen, die zu schwach oder zu dumm waren, um wegzugehen. Frauen ohne Phantasie. Also blieben sie in Wind Gap und spielten ihr Teenagerleben in einer Endlosschleife weiter.
»Ich sage Jackie, dass du hier bist.« Geri nahm einen Umweg zur Hintertreppe – durchs Wohnzimmer, nicht durch die verglaste Küche, in der Jackies Söhne sie gesehen hätten.
Das Zimmer, in das sie mich führte, war obszön weiß mit grellen Farbtupfen, als hätte ein ungezogenes Kind in die Fingerfarben gegriffen. Rote Dekokissen, gelbe und blaue Vorhänge, eine schrillgrüne Vase mit roten Keramikblumen. Über dem Kamin hing ein lächerlich grinsendes Schwarzweißporträt von Jackie mit bauschiger Föhnfrisur, das Kinn neckisch auf ihre gefalteten Hände gestützt. Sie sah aus wie ein aufgedonnertes Schoßhündchen. Obwohl mir so schlecht war, musste ich grinsen.
»Camille, Darling!« Jackie trat mit ausgestreckten Armen ins Zimmer. Sie trug ein Hauskleid aus Satin und Diamantohrringe, groß wie Bauklötze. »Du besuchst mich tatsächlich. Furchtbar siehst du aus, Schätzchen. Geri, zwei Bloody Marys auf Rezept!« Dann heulte sie auf, was wohl als Gelächter gedacht war. Geri wartete auf der Schwelle, bis Jackie in die Hände klatschte.
»Ich meine es ernst, Geri. Und denk an den Salzrand.« Sie wandte sich zu mir. »Es ist heutzutage so schwer, vernünftiges Personal zu finden«, murmelte sie und meinte es ernst, obwohl Leute so etwas eigentlich nur im Fernsehen sagen. Jackie schaute mit Sicherheit nonstop fern, den Drink in der einen, die Fernbedienung in der anderen Hand, während bei geschlossenen Vorhängen die Morgentalkshows in die Seifenopern übergingen, gefolgt von Gerichtsdramen, Sitcoms, Krimis und Spätfilmen, in denen Frauen vergewaltigt, belauert, betrogen oder getötet wurden.
Geri servierte die Drinks auf einem Tablett, dazu Selleriestangen, Mixed Pickles und Oliven, schloss auf Jackies Ersuchen die Vorhänge und ließ uns allein. Nun saßen wir im Dämmerlicht in diesem eisig klimatisierten weißen Zimmer und schauten einander an. Jackie öffnete schwungvoll die Schublade des Couchtischs. Darin lagen drei Fläschchen Nagellack, eine zerfledderte Bibel und ein halbes Dutzend orangefarbener Pillenschachteln.
»Was gegen Schmerzen? Kann ich empfehlen.«
»Ich glaube, ich sollte lieber meine fünf Sinne beisammenhalten«, sagte ich. Keine Ahnung, ob sie es ernst meinte. »Sieht
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