Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
riesigen Puppenhaus und lutschte am Daumen. Die Ringe unter ihren Augen waren beinahe violett, meine Mutter hatte ihr Stirn und Brust verbunden. Amma hatte ihre Lieblingspuppe in Taschentücher gewickelt, die mit roten Filzstifttupfen übersät waren, und in ihr Bett gelegt.
»Was hat sie mit dir gemacht?«, fragte sie mit schläfrigem Lächeln.
Ich drehte mich um, damit sie die kahle Stelle sehen konnte.
»Und sie hat mir was gegeben, das mich völlig umgehauen hat. Schlecht ist mir auch.«
»Blau?«
Ich nickte.
»Ja, auf die steht sie«, murmelte Amma. »Du schläfst ein, schwitzt, sabberst, und dann dürfen ihre Freundinnen einen Blick auf dich werfen.«
»Hat sie das schon öfter mit dir gemacht?« Trotz Schweiß wurde mir kalt. Ich hatte recht gehabt, etwas Furchtbares würde passieren.
Amma zuckte die Achseln. »Mir egal. Manchmal tu ich nur so, als würde ich sie nehmen. Dann sind wir beide glücklich. Ich spiele mit meinen Puppen oder lese, und wenn ich sie kommen höre, stelle ich mich schlafend.«
»Amma?« Ich setzte mich neben sie auf den Boden und streichelte ihr übers Haar. Ich musste sanft vorgehen. »Gibt sie dir oft Pillen und so was?«
»Nur wenn ich krank werde.«
»Was passiert dann?«
»Manchmal ist mir heiß, und ich drehe durch, und dann lässt sie mich kalt baden. Manchmal muss ich mich übergeben. Oder ich bin schwach und zittrig und will nur schlafen.«
Es fing wieder an. Wie bei Marian.
Genau
wie bei Marian. Ich spürte, wie mir die Galle hochkam, wie sie mir die Kehle zuschnürte. Ich fing an zu weinen, stand auf, setzte mich wieder. In meinem Magen brodelte es. Ich stützte den Kopf in die Hände. Amma und ich waren krank,
genau wie Marian.
Ich begriff es erst, als es mir förmlich ins Gesicht sprang – fast zwanzig Jahre zu spät. Am liebsten hätte ich vor Scham geschrien.
»Lass uns mit den Puppen spielen, Camille.« Meine Tränen bemerkte oder beachtete sie gar nicht.
»Das geht nicht, Amma, ich muss arbeiten. Stell dich schlafend, wenn Momma kommt.«
Ich zog meine Kleider über die schmerzende Haut und betrachtete mich im Spiegel.
Du bist irre. Du bist unvernünftig. Stimmt nicht. Meine Mutter hat Marian getötet. Meine Mutter hat die kleinen Mädchen getötet.
Ich taumelte zur Toilette und erbrach eine Flut salzigen, warmen Wassers, das mir ins Gesicht spritzte, während ich über der Schüssel hing. Als sich mein Magen entspannte, merkte ich, dass ich nicht allein war. Meine Mutter stand hinter mir.
»Armes Ding«, murmelte sie. Ich zuckte zusammen, kroch von ihr weg. Lehnte mich an die Wand und schaute sie von unten an.
»Warum bist du angezogen, Liebes? Du kannst nirgendwohin gehen.«
»Ich muss raus. Hab zu tun. Frische Luft tut mir gut.«
»Geh ins Bett, Camille.« Ihre Stimme klang schrill und drängend. Sie marschierte zum Bett, schlug die Decke zurück und klopfte darauf. »Komm, Schätzchen, du musst auf dich achtgeben.«
Ich rappelte mich auf, schnappte meinen Autoschlüssel vom Tisch und schoss an ihr vorbei.
»Geht nicht, Momma, bin gleich zurück.«
Ich ließ Amma mit ihren kranken Puppen allein und raste so rasch die Einfahrt hinunter, dass ich mir dort, wo die Schräge abrupt endete, die Stoßstange verbeulte. Eine fette Frau mit Kinderwagen schaute mir kopfschüttelnd nach.
Ich fuhr drauflos, wollte meine Gedanken in Ordnung bringen, überlegte, wen ich in Wind Gap kannte. Ich brauchte jemanden, der mir klar und deutlich sagte, was mit Adora nicht stimmte und dass ich recht hatte. Jemanden, der Adora kannte, der meine Kindheit aus der Sicht eines Erwachsenen betrachten konnte, der hier gewesen war, während ich in Chicago lebte. Plötzlich kam ich auf Jackie O’Neele und ihr Juicy Fruit und den Suff und den Klatsch. Ihre abgehalfterte mütterliche Wärme und die Worte, die jetzt wie eine Warnung klangen:
Es ist so viel schiefgelaufen.
Ich brauchte Jackie, die von Adora verstoßen war, brauchte ein offenes Wort, eine Frau, die meine Mutter ihr ganzes Leben lang gekannt hatte. Die mir ganz offenkundig etwas zu sagen hatte.
Jackies Haus, ein moderner Bau, der an eine herrschaftliche Plantage erinnern sollte, lag nur wenige Minuten entfernt. Ein magerer, blasser Junge hockte auf einem Rasenmäher und zog rauchend seine engen Bahnen. Sein Rücken war mit höckerigen, giftigen Pickeln gesprenkelt, die wie Wunden aussahen. Noch so ein Drogenkandidat. Eigentlich könnte Jackie auf diese Zwischenstation verzichten und dem Dealer gleich
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