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Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Titel: Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Flynn
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empfindsam.«
    Er schnaubte verächtlich. »Meine Eltern haben mir ein Buch gekauft:
Wie Männer trauern.
Darin stand, manchmal müsse man sich einfach ausklinken, den Tod leugnen. Dass Leugnen Männern guttun kann. Also wollte ich eine Stunde lang so tun, als machte es mir nichts aus. Ganz kurze Zeit hat es auch funktioniert. Ich saß in meinem Zimmer bei Meredith und hab an … irgendwelchen Mist gedacht. Starrte aus dem Fenster auf den blauen Himmel und hab mir gesagt:
Alles ist gut alles ist gut alles ist gut.
Als wäre ich ein Kind. Und als ich fertig war, wusste ich genau, dass nichts jemals wieder gut sein würde. Selbst wenn sie den Täter fassen, wäre es nicht gut. Ich weiß nicht, warum alle sagen, dass man sich besser fühlt, wenn jemand verhaftet wird. Und jetzt sieht es so aus, als wäre ich derjenige, den sie verhaften.« Er lachte freudlos und schüttelte den Kopf. »Scheiße, das ist doch krank.« Und dann, ganz unvermittelt: »Möchten Sie noch was trinken? Trinken Sie einen mit?«
    Er war blau, schwankte stark, trank sich in Richtung Blackout. Aber irgendwie fühlte ich mich ihm seelenverwandt und gönnte ihm das Vergessen. Manchmal ist das der logischste Weg. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass nur die Hartherzigen unter uns auf Klarheit und Nüchternheit pochen. Ich trank am Tresen einen Kurzen, um aufzuholen, und nahm zwei Bourbon mit an den Tisch. Für mich einen doppelten.
    »Es ist, als hätte sich jemand die einzigen Mädchen in Wind Gap ausgeguckt, die einen eigenen Kopf hatten, und sie aus dem Weg geräumt«, meinte John und trank einen Schluck. »Meinen Sie, Ihre Schwester und meine Schwester sind Freundinnen geworden?«
    An jenem imaginären Ort, an dem beide noch leben, an dem Marian nie älter wird.
    »Nein«, sagte ich und musste plötzlich lachen. Er lachte auch.
    »Also ist Ihre tote Schwester zu gut für meine tote Schwester?«, platzte er heraus. Erneut lachten wir, wurden aber schnell wieder ernst und konzentrierten uns auf die Drinks. Mir wurde schon schummrig.
    »Ich habe Natalie nicht getötet«, flüsterte er.
    »Ich weiß.«
    Er nahm meine Hand, legte sie um seine.
    »Sie hatte die Fingernägel lackiert, als man sie fand. Jemand hat ihr die Fingernägel lackiert«, brummelte er.
    »Vielleicht sie selbst.«
    »Natalie hasste so etwas. War schon schwer, ihr nur die Haare zu bürsten.«
    Wir schwiegen eine Weile. Auf Carole King folgte Carly Simon. Weibliche Folkstimmen in einer Schlachterkneipe.
    »Sie sind so schön«, sagte John.
    »Das bist du auch.«
     
    Auf dem Parkplatz fummelte John mit seinen Schlüsseln herum und gab sie mir bereitwillig, als ich sagte, er sei zu betrunken, um zu fahren. Mir ging es kaum besser. Ich brachte ihn irgendwie zu Merediths Haus, doch er schüttelte den Kopf und fragte, ob ich ihn zum Motel außerhalb der Stadt fahren könne. Dort war ich vor Tagen untergekrochen, eine kleine Zuflucht, um mich für Wind Gap und sein drückendes Gewicht zu wappnen.
    Wir fuhren mit offenen Fenstern, die warme Nachtluft wehte herein und drückte John das T-Shirt an die Brust. Meine langen Ärmel flatterten im Wind. Von seinem dichten Schopf abgesehen wirkte er völlig unbehaart. Selbst auf den Armen spross nur ein zarter Flaum. Er sah schutzbedürftig aus.
    Ich bezahlte für Zimmer  9 , da John keine Kreditkarte besaß, schloss die Tür auf, setzte ihn aufs Bett, holte einen Plastikbecher mit lauwarmem Wasser. Er schaute unverwandt zu Boden und weigerte sich, ihn zu nehmen.
    »John, du musst unbedingt Wasser trinken.«
    Er kippte den Becher in einem Zug hinunter und ließ ihn vom Bett kullern. Packte meine Hand. Ich wollte mich – eher instinktiv – losmachen, doch er packte noch fester zu.
    »Das habe ich letztens schon gesehen«, sagte er und fuhr mit den Finger das
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in
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nach, das unter meinem linken Ärmel hervorlugte. Mit der anderen Hand streichelte er mein Gesicht. »Darf ich?«
    »Nein.« Ich wollte weg.
    »Lass es mich ansehen, Camille.« Er hielt fest.
    »Nein, John, das darf niemand.«
    »Ich schon.«
    Er rollte meinen Ärmel hoch und blinzelte angestrengt. Versuchte die Linien auf meiner Haut zu lesen. Ich weiß nicht, warum ich es zuließ. Er hatte einen forschenden, süßen Ausdruck im Gesicht. Der Tag hatte mich ganz schön mitgenommen. Und ich war das ganze Versteckspiel so ungeheuer leid. Seit mehr als zehn Jahren konnte ich mich nie richtig auf ein Gespräch einlassen – sei es mit Freunden, Interviewpartnern oder

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