Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
patschte mit ihren dicken Plastiksandalen durch den Flur.
Zwanzig Minuten später begann das Erbrechen, würgende, schweißnasse Erschütterungen, bei denen ich mir ausmalte, wie sich mein Magen verkrampfte und zerbarst. Zwischen den Anfällen hockte ich neben der Toilette auf dem Boden, nur mit einem T-Shirt bekleidet, das mir nicht mal passte. Draußen hörte ich die Blauhäher zanken. Drinnen rief meine Mutter nach Gayla. Eine Stunde später kotzte ich noch immer, würgte grünliche Galle aus, die wie Sirup in zähen Schlieren aus mir herausfloss.
Ich zog mir etwas an und putzte mir vorsichtig die Zähne. Sowie ich die Bürste zu weit hineinschob, musste ich wieder würgen.
Alan saß vorn auf der Veranda und las in einem großen, ledergebundenen Buch mit dem schlichten Titel
Pferde
. Auf der Armlehne seines Schaukelstuhls balancierte eine Schüssel aus orangefarbenem Pressglas, in der ein grüner Puddingklumpen lag. Alan trug einen blauen Seersuckeranzug und einen Panamahut. Er wirkte still wie ein Teich.
»Weiß deine Mutter, dass du weggehst?«
»Ich bleibe nicht lange.«
»Du bist in letzter Zeit viel besser auf sie eingegangen, Camille, dafür möchte ich dir danken. Sie scheint erholter. Selbst mit … Amma läuft es reibungsloser.« Er schien stets innezuhalten, bevor er den Namen seiner Tochter aussprach, als wäre er irgendwie zweideutig.
»Gut, Alan, danke.«
»Ich hoffe, dir selbst geht es auch besser, Camille. Es ist wichtig, sich selbst zu mögen. Eine gute innere Einstellung ist ebenso ansteckend wie eine schlechte.«
»Viel Spaß mit den Pferden.«
»Den habe ich immer.«
Die Fahrt nach Woodberry wurde durch gelegentliche Schlenker an den Bordstein unterbrochen, wo ich Galle und ein wenig Blut spie. Drei Zwischenstopps. Ich spülte den Geschmack mit warmer Erdbeerlimo und Wodka runter.
Das St. Joseph’s Hospital in Woodberry ist ein riesiger Würfel aus goldenen Ziegelsteinen und bernsteinfarbenen Fenstern. Marian hatte ihn mal mit einer Waffel verglichen. Meist war es ruhig; wer weiter westlich lebte, fuhr nach Poplar Bluff ins Krankenhaus; im Norden bevorzugte man Cape Girardeau. Nur wer im äußersten Winkel von Missouri festsaß, ging nach Woodberry.
Die dicke Frau mit der komisch gerundeten Brust, die am Empfang saß, verbreitete eine Bitte-nicht-stören-Atmosphäre. Ich stand da und wartete. Sie gab vor, konzentriert zu lesen. Ich trat näher. Sie fuhr mit dem Zeigefinger jede Zeile ihrer Illustrierten entlang.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich mit einer Mischung aus Gereiztheit und Herablassung, die mir selbst nicht gefiel.
Sie hatte einen Damenbart und gelbe Fingerspitzen vom Rauchen, die gut zu ihren braunen Eckzähnen passten.
Das Gesicht, das du der Welt zeigst, zeigt anderen, wie du behandelt werden möchtest
, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich mich ihren Verschönerungsversuchen widersetzte. Diese Frau konnte man folglich nur unfreundlich behandeln.
»Ich muss einige Patientenunterlagen einsehen.«
»Reichen Sie eine Anfrage über Ihren Arzt ein.«
»Es geht um meine Schwester.«
»Dann soll Ihre Schwester eine Anfrage einreichen.« Sie blätterte weiter.
»Meine Schwester ist tot.« Ich hätte es auch sanfter ausdrücken können, aber die Frau sollte endlich aufwachen. Selbst jetzt schenkte sie mir nur widerwillig ihre Aufmerksamkeit.
»Mein Beileid. Ist sie hier gestorben?«
»Sie war schon tot, als sie eingeliefert wurde. Sie kam häufig zu Notfallbehandlungen her und hatte auch ihren Arzt hier im Haus.«
»Wann war das?«
» 10 . Mai 1988 .«
»Jesus, das ist lange her. Hoffentlich haben Sie Geduld.«
Vier Stunden später, nach zwei Schreiattacken mit lustlosen Schwestern, einem verzweifelten Flirt mit einem blassen, flaumbehaarten Verwaltungsmenschen und drei Kotzgängen auf die Toilette hielt ich Marians Unterlagen auf dem Schoß.
Eine Akte für jedes Lebensjahr, eine umfangreicher als die vorige. Die Hälfte des Gekritzels konnte ich nicht entziffern. Oft ging es um Tests, die nichts ergeben hatten. Untersuchungen von Gehirn und Herz. Ein Verfahren, bei dem man eine Kamera durch Marians Kehle einführte, um ihren Magen zu untersuchen, der mit einer strahlenden Substanz gefüllt worden war. Überwachung auf Atemstillstand. Mögliche Diagnosen: Diabetes, Herzgeräusche, Sodbrennen, Lebererkrankung, Lungenüberdruck, Depressionen, Morbus Crohn, Lupus. Dann ein feminines, zartrosa liniertes Blatt. Festgeheftet an einem Bericht, der Marians
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