Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
durch die Scharen der Reporter mit Mikrofonen vermied, indem er in ein wartendes Auto stieg.
Nur keine Aufregung,
ermahnte sich Eve und ging zurück an ihren Tisch, wo auf einem ovalen Teller ihr Shrimp-Sandwich und ein Schälchen Krautsalat warteten. Das Sandwich troff von Butter, der Weißkohl ertrank schier im Dressing. Nach Anna Marias Anruf war Eve der Appetit eigentlich vergangen, dennoch setzte sie sich an den Tisch und biss in ihr Sandwich.
Der Mensch muss essen,
sagte sie sich, schmeckte die würzigen gebratenen Shrimps jedoch kaum.
Was würde sie sagen, wenn Cole ihr über den Weg lief? Was würde
er
sagen? Würde er ihr ausweichen? Oder im Gegenteil nach ihr suchen? Sie schluckte mechanisch einen Bissen hinunter und bemühte sich, nicht an seine eindringlichen blauen Augen zu denken, an sein dichtes, schwarzes Haar, das energische Kinn. Doch das erwies sich als unmöglich. Sein Bild stand ihr klar vor Augen – so, wie er damals ausgesehen hatte, als sie sich kennenlernten.
Es war auf der geräumigen Veranda ihres Vaters gewesen. Cole hatte auf einem Hocker gesessen, vorgebeugt, die gebräunten Arme auf die jeansbekleideten Knie gestützt. Sein dunkles Haar sah aus, als müsste er dringend zum Friseur, und ein Bartschatten verdunkelte sein Kinn.
Auf den ersten Blick hatte sie ihn für einen Landarbeiter gehalten. Sie hatte gerade ihren alten VW -Käfer eingeparkt und die Tasche vom Rücksitz gehievt. Der Staub, den der VW an diesem heißen Sommertag aufgewirbelt hatte, legte sich allmählich auf den spärlichen Kiesbelag. Sie war erhitzt von der Fahrt – die Klimaanlage des Wagens hatte schon längst ihren Geist aufgegeben –, und das T-Shirt klebte ihr am Rücken. Sie fühlte sich unbehaglich in ihren durchgeschwitzten Kleidern. Als sie den Weg hinaufging, erhob sich Cole zu seinen vollen eins neunzig. Gleichzeitig sprang der Jack-Russell-Terrier-Mischling ihres Vaters auf und stürmte die ausgetretenen Stufen hinunter, um Eve zu begrüßen.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, bot Cole an. Er sprach gedehnt mit einem leichten Westtexas-Akzent. Beinahe rechnete Eve damit, dass er sie mit »Ma’am« oder »Miss« ansprach.
»Nicht nötig, das geht schon. Hi, Rufus«, sagte sie und bückte sich, um den Hund zu streicheln, der vor Freude winselnd mit dem Schwanz wedelte.
Ihr Vater war blass und schien in den wenigen Monaten seit den Frühjahrsferien um zwanzig Jahre gealtert. Er erhob sich steif, mit hörbar knackenden Knien. »Hi, Baby«, sagte er, als sie, gefolgt von Rufus, die Stufen heraufkam. Noch ehe sie ihre Tasche abstellen konnte, schloss Terrence sie fest in die Arme. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe, und da roch sie es: den schwachen Hauch von Whiskey, der ihm seit ein paar Jahren immer öfter anhaftete. Sie fühlte sich unbehaglich, unbeholfen und dumm, als ihr Vater sie losließ, und der Fremde sah sie so eindringlich an, dass ihr Herz ins Stolpern geriet. »Eve, das ist Cole Dennis. Cole, meine Tochter.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Cole und streckte ihr die Hand entgegen.
»Hi.« Sie legte sich den Riemen der Tasche über die Schulter, um ihn zu begrüßen.
Seine schwieligen Finger umfassten die ihren, und er schüttelte kurz ihre Hand.
»Cole ist mein Anwalt«, erklärte ihr Vater, ehe er sich wieder setzte. Sie bemerkte das kleine Glas auf dem Tisch. Die Eiswürfel schmolzen in der Hitze. Über ihren Köpfen arbeitete eine Wespe fleißig an ihrem Nest unter der Regenrinne.
»Dein Anwalt?«, wiederholte sie verblüfft. »Ein Rechtsanwalt?« Sie gab sich Mühe, nicht auf die nachlässige Kleidung des Mannes zu starren – die abgewetzten Jeans, das zerknitterte, schweißfleckige T-Shirt und die abgetretenen Laufschuhe. Ebenso vermied sie es, einen Blick zu dem zerbeulten, staubigen Pick-up zu werfen, der auf dem Kiesplatz vor der Garage unter den üppigen Zweigen eines Pecanbaums stand.
Langsam breitete sich auf Coles Gesicht ein Lächeln aus, so, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Ganz recht, Ma’am«, sagte er gedehnt und mit ebender Südstaaten-Höflichkeit, die sie unwillkürlich erwartet hatte, begleitet von einem belustigten Funkeln in den Augen, deren Farbe irgendwo zwischen Blau und Grau angesiedelt war.
»Was für ein Anwalt?«
»Verteidiger«, sagte ihr Vater und lehnte sich schwerfällig zurück. »Ich bin verklagt worden. Kunstfehler.« Er machte mit der Rechten eine Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen,
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