Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
Aufzeichnungen hin. Nachdem Drobitschenko sie gelesen hatte, saß er eine Weile schweigend da und kaute auf den Lippen, als wäre er ein schlechter Schüler, der an der Tafel stünde und die Antwort nicht wusste. Bei diesem hageren Glatzkopf mit abstehenden Ohren sah das ziemlich komisch aus. Ludmila band sich irgendeinen Lappen um den Kopf, um den rasierten Schädel zu verbergen. Kowal hielt das für ein ausgesprochen gutes Zeichen: Wenn einer Frau wieder einfiel, dass ein Mann in ihrer Gesellschaft war, befand sie sich auf dem Weg der Besserung …
»Das heißt also, Rakitski hat ohne unser Einverständnis eine Umprogrammierung vorgenommen?«, fragte Drobitschenko nun. »Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?«
»Hätte er das nicht getan, wären Sie jetzt tot«, sagte Artur kalt.
»Was ist mit den anderen? In dem Bericht heißt es, dass …«
»Niemand sonst hat überlebt. Die anderen Kapseln haben versagt. Sind Sie jetzt imstande, mir zuzuhören? Luda, ich rede mit Ihnen!«
Die Frau nickte. Sobald ihr Blick auf Kowals Aufmachung und seine nackten schwarzen Füße fiel, erschauderte sie auch jetzt noch, aber langsam gewann sie die Beherrschung über sich zurück. Artur durchzuckte abermals ein unschöner Verdacht: Es gefiel ihm nämlich überhaupt nicht, wenn Menschen ihm nicht in die Augen sahen.
Er redete weiter. Da die Drobitschenkos Englisch sprachen, konnte Kowal ihnen offen erklären, wer sein Begleiter war und warum sie sich in seiner Gegenwart nicht allzu ungezwungen geben sollten. Dann schickte er den Leutnant weg, damit er am Eingang Posten stand, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Über die Wipper verlor er kein Wort, schilderte aber in groben Umrissen die Situation in Moskau und Umgebung. Die Drobitschenkos schwiegen lange, um diese Nachrichten zu verdauen. Erst jetzt dämmerte Artur, dass die beiden Wissenschaftler ihm ja nicht unbedingt glauben, geschweige denn, ihn nach Piter begleiten mussten. Bisher hatte er nie Zweifel daran gehegt, dass sie es tun würden, aber nun ließ er sich die Frage noch mal ernsthaft durch den Kopf gehen. Neben ihm saßen erwachsene, selbstständige Menschen, die momentan ohne Frage der Pflege und Unterstützung bedurften – die seine Hilfe aber auch schlankweg ablehnen konnten.
»Es gibt also wieder Sklavenhandel?«, hakte Sergej nach, den Blick auf den Boden gerichtet.
»So muss man es wohl nennen, ja.«
»Und hier regiert eine faschistische Bande?«
»Eher eine Art Mafia. Zumindest halten sich die Leute im Kreml noch an gewisse Regeln. Außerdem kontrollieren sie noch nicht mal das gesamte Moskauer Umland. Aber sie schielen bereits nach dem ganzen Land. Ein Bekannter von mir hat das einmal so ausgedrückt, dass die Menschen zu ihrem natürlichen Ursprung zurückkehren.«
»Verstehe.« Drobitschenko biss in ein gebratenes Hühnerbein. »Wie sieht es im Ausland aus?«
»Nicht viel anders. Vor allem, was die Zeugungsfähigkeit angeht. In den letzten zwanzig Jahren hat man ein Handelssystem aufgebaut. Über Moskau kann ich in diesem Zusammenhang nicht viel sagen, aber von Petersburg aus ziehen Karawanen nach Finnland, Polen, Litauen und Schweden. Im Übrigen sind die Grenzen jetzt nur noch … Makulatur.«
»Was schlagen Sie uns vor? Petersburg scheint mir, nach allem, was Sie bisher ausgeführt haben, keine Alternative. Was hat denn Ihr Herr Rubens, das der neue Präsident Moskaus nicht hat? Nein … vielleicht sollten wir besser emigrieren?«
»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen. Lassen Sie uns zusammen nach Bern oder Paris gehen. Vielleicht können wir dort weitere Kollegen wecken und …«
»Sie haben doch gerade selbst gesagt, dass es keine Züge oder Flugzeuge mehr gibt!«, fiel ihm Luda wütend ins Wort. »Sollen wir etwa zu Fuß nach Paris?! Das können Sie gleich vergessen!«
»Aber du wolltest doch immer nach Paris!«, sagte ihr Gatte.
»Der Traum ist nun ja wohl geplatzt!«, giftete Luda. »Das ist mal wieder typisch für dich, Serge. Du würdest glattweg aufbrechen, ohne vorher irgendjemanden zu konsultieren.«
»Also …«, wandte sich Sergej an Kowal, »… wir sind Ihnen natürlich sehr dankbar, aber wir würden gern mit einem Vertreter der Regierung sprechen …«
»Der Regierung?!«, presste Artur fassungslos heraus. Zum Teufel aber auch mit diesen beiden. Die Drobitschenkos und er, sie sprachen ganz offenbar nicht dieselbe Sprache. Oder sollte er in den letzten drei Jahren doch vergessen haben, wie sich zivilisierte
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