Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
einem Wolltuch auf ihren Schultern lugten die Barthaare einer kleinen weißen Ratte hervor. »Du, Schwert, wirst heute also fünfunddreißig Jahre. Das hast du uns selbst gesagt. Das ist ein gutes Alter, entschieden besser als einundachtzig Jahre, um es einmal so auszudrücken. Für einen Mann kann es eigentlich kein schöneres geben. Durch seine Lenden schießt noch Saft, aber er hat noch keine grauen Haare. Früher haben wir getrunken, wenn Kinder geboren wurden. Wir feiern nur selten. Deshalb gefällt es mir, wenn heute Kartoffelbrei und Schnaps auf dem Tisch stehen. Nur frage ich mich: Was geschieht, wenn wir arbeiten müssen – und plötzlich jeder auf die Idee kommt, zu seinem Geburtstag Gäste zusammenzutrommeln? Wie soll ich dann noch bei den Geburten helfen, wenn ich das ganze Jahr über betrunken bin …?!«
Sie brach in schallendes Gelächter aus, bei dem ihre beiden letzten Zähne im Mund aufblitzten. Die anderen stimmten aus vollem Herzen ein. Selbst Nadja, die sich mit einem Tuch die vom Weinen verquollenen Augen wischte.
»Berder hat mir gesagt, wir müssen uns einen Wunsch für dich ausdenken«, fuhr Klawdija in ernsterem Ton fort. »Nun hör dir also an, was ich dir wünsche: Viel Kraft, wirklich viel. Und dass du die Gerechtigkeit erkennst, die, die für alle gilt … Du willst schon jetzt für alle Gutes. Das ist lobenswert. Aber Gerechtigkeit …? Darunter versteht jeder Mensch einmal eine, die für alle gilt, einmal eine, die nur für einen selbst gilt. Für mich ist Gerechtigkeit etwas Kleines, denn was braucht eine Alte wie ich auch schon Großes? Ich will nur ein wenig Marmelade und dass immer Feuerholz im Ofen ist, mir die Knochen zu wärmen. Jedem das Seine … Und jetzt zu dir, Schwert. Du musst uns nicht sagen, was du unter Gerechtigkeit verstehst, du musst dir selbst darüber klar werden. Allen wird deine Gerechtigkeit nicht gefallen, sicher nicht … Ach, Worte liegen mir einfach nicht! Trinken wir also auf ihn, ja?«
Das taten sie. Dann ein weiteres Mal. Nach und nach tauten alle auf. Irgendwann stiefelte Artur in den Keller runter, um eine Flasche Wacholderschnaps zu holen. Bald lachten die Gäste unbeschwert, schwelgten in Jagderinnerungen, wärmten die Geschichte auf, wie ein Fisch fast den Sohn des einäugigen Boris in den Fluss gezogen hätte, und debattierten über die Ernteaussichten, was sie verkaufen könnten und was sie auf keinen Fall zum Markt bringen durften. Und genauso sachlich wie übers Korn und die Futterrüben redeten sie darüber, wie viele gelbe Wilde sie für den Winter dabehalten sollten und wie viele sie ziehen lassen konnten. Besser gesagt: nicht einfach ziehen lassen, sondern in den Norden verkaufen. Ismail gab zu bedenken, dass die gelben Wilden das dortige Klima nur schlecht vertragen würden, weshalb Dschingisse größere Gewinne versprächen, denn die würden selbst im Schnee noch friedlich schlafen.
Dann erörterten sie den Handel mit den Burjaten. Prochor wusste zu berichten, dass die Schlitzaugen im Tausch gegen Diamanten immer häufiger Kinder aus der Stadt verlangten und die Neugeborenen der Wilden nicht mehr akzeptieren würden. Mit der Zeit kam das Gespräch auf die Dunklen Male. Matwej war auf einem zweiten Drachen, den Prochor gezüchtet hatte, nach Moskau geflogen. Dort hielten jetzt ständig drei Wipper aus den südlichen Gouvernements Wache. Die Erde sei bis auf einen Tagesritt vor Twer in Aufruhr gewesen, habe sich jetzt aber beruhigt. Die Dunklen Male seien zum Glück verschwunden, die meisten Menschen hätten sich retten können, auch das nicht schlecht. Außerdem hätten die Wipper die günstige Gelegenheit genutzt und den Armen auf der Flucht billig ihre minderjährigen Kinder abgekauft …
Artur hörte ihnen zu, war aber gleichzeitig mit seinen Gedanken ganz woanders. Er hatte wesentlich mehr getrunken als sonst, und allmählich drehte sich alles um ihn herum. Die Wange in die Hand gelegt betrachtete er seine Frau. Mein Gott, dachte er, das ist es, das ist meine kleine Gerechtigkeit, von der die alte Klawdija eben gesprochen hat! Aber all diese freundlichen Menschen, die gekommen sind, um mit ihm zu feiern, als habe er schon immer zu ihnen gehört, und ihm das Wertvollste, das sie besaßen, gebracht hatten, würden für ihn immer Wilde bleiben. Sie alle – die Wipper, aber auch die Städter – würden für ihn Fremde bleiben, wenn er sich nicht endlich an die Gesetze dieser Welt anpasste. Die Hüter würden notfalls für ihn
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