Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
sollen? Hör mir lieber zu und glaube mir, dass ich dir die Wahrheit sage: Du musst lernen, eine wilde Herde unter deine Kontrolle zu bringen. Nicht einen zahmen Fleder, sondern eine wilde Herde! Du musst lernen, ein Lebewesen zu töten, ohne es anzurühren. Und du musst lernen, dich dort zu verstecken, wo es kein Versteck gibt, lange die Luft anzuhalten, einer Menge etwas vorzugaukeln und vieles mehr … Das dauert gar nicht so lange. Ich bitte dich lediglich um ein Jahr. Ein Jahr, Schwert, mehr nicht!«
Arturs Blick ruhte auf dem Dorf. Die Hügel, die sich am Horizont hinzogen, bildeten ein derart phantastisches Panorama, dass ihm selbst nach all den Jahren im Dorf der Atem noch immer stockte – nur stand ihm in diesem Moment nicht der Sinn nach einer Naturidylle.
»Wofür willst du mich noch ausbilden?«
»Du weißt, dass die Kinder von uns Wippern Städte nicht ertragen. Damit meine ich unsere leiblichen Kinder, nicht die, die wir kaufen oder uns mit Gewalt holen.« Berder wandte sich ab und betrachtete die aufgehende Sichel des Mondes. »Mam Klawdija, die Herrin der Geburten, besitzt ein Fass mit Chemie. Sie hat es tief in einem Keller versteckt, in einer alten Hütte … Nicht ein Wipper hält es neben diesem Fass länger als eine Minute aus, neugeborene Kinder ersticken in seiner Nähe sogar. Bei deinem Sohn und deiner Tochter war das anders, aber sie sind halt Städter. Vor einem Monat jedoch …«
»… haben es die leiblichen Kinder der Wipper neben dem Fass ausgehalten?«, vollendete Artur den Satz.
»Ja … der Urenkel von Semjon. Er weiß das nicht, also erzähle ihm bitte nichts davon. Und noch ein Mädchen aus dem Norden. Wir wissen genau, dass sein Vater ein Wipper ist. Das ist die siebte Generation, Schwert …« Der Hüter stand so gebückt da, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern. »Bisher wissen nur wir drei von diesem Geheimnis, aber schon bald werden auch Wipper in anderen Dörfern dahinterkommen. Das Buch berichtet davon, nur haben wir das bislang nicht verstanden. Aber es gibt Zeilen, die lauten: Wenn die siebente Ähre sprießt, werden die Wurzeln faulig sein, der Kolben indes prall von nie da gewesener Kraft … Wenn die Kinder herangewachsen sind, wissen sie, dass sie in die Stadt gehen können. Begreifst du jetzt, warum ich dich bitte, noch zu bleiben? Ich werde die Ältesten einberufen, um mit ihnen über diese Entwicklung zu sprechen. Und ich verspreche dir, dass kein fremder Mann deine Frau anrühren wird.«
»Aber was soll ich denn …?«
»Wenn du es schaffst, in Piter zu überleben, kannst du dafür sorgen, dass auch unsere Kinder dort überleben. Dass kein Städter sie tötet, wenn sie einen Fuß in die Stadt setzen. Sonst wird der Tag kommen, an dem es niemanden mehr gibt, der das Gleichgewicht hütet.«
(37)
TIER VERSUS TERMINATOR
Artur suchte die Gegend durchs Fernrohr ab, entdeckte aber nirgends den geringsten Orientierungspunkt. Der Goldfuchs tänzelte ungeduldig, aber sein Herr hatte keine Eile. Die Straße, über die einst die Karawanen aus Piter nach Moskau gezogen waren, existierte nicht mehr. An ihrer Stelle schlängelten sich Dutzende von schmalen Pfaden durch die Ewige Brandstätte. Diese hatte sich ebenfalls sehr verändert: Überall ragten eckige kleine Inseln von gekrümmten Bäumen auf, die mit einem dichten gelblichen Spinnennetz überzogen waren, fast als wären sie Fliegen, von einer vorsorglichen Spinne eingelagert. Die gelben Inseln zogen sich in Ketten bis zum Horizont, erklommen einen inmitten von hohem Farn gelegenen Hügel, kreuzten Senken, pflügten sich durch die bläuliche pilzartige Sülze, ja, sie wagten sich sogar an die Grenze des welken grünen Grases vor.
Gleichzeitig meinte Artur, dass die Brandstätte geschrumpft sei. Er blickte zurück, in die Richtung, aus der er gekommen war. Hinter ihm führten knallgelbe, orangefarbene und braune Blätter einen wilden Wirbel auf. Der Herbstwald schüttelte unablässig sein Laub ab. Ich habe mich nicht getäuscht, dachte er bei sich, die Brandstätte ist kleiner geworden. Früher hat sie noch den gesamten Beton des Tanklagers eingenommen, aber in den vier Jahren hat sich das Leben fast einen Kilometer zurückerobert. »Weiter so!«, murmelte er.
»Weiiiiiter sooooo«, echote der Herbstwald, als sehne er sich nach dem Wort eines Menschen.
Artur beugte sich vor und stocherte mit dem Säbel in einem lockeren Erdhügel. Unter dem Laub starrte ein Menschenschädel mit leeren
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