Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
Artur, dem mit einem Mal klar geworden war, was ihm keine Ruhe ließ. »Habe ich das richtig verstanden: Die Museumsleute leben und arbeiten praktisch als eine einzige große Genossenschaft? Privatbesitz gibt es bei euch gar nicht, oder? Aber in dem Fall muss es doch zu Spannungen kommen!«
»Nur auf sich gestellt überlebt heute niemand mehr! Wenn du mir nicht glaubst, kannst du es gern einmal versuchen.«
»Aber was, wenn der Pap …«
»Du meinst, wenn der Pap die Macht usurpiert? … Ach, setzen wir uns doch erst einmal.«
Lew nahm in einem Sessel mit Samtbezug Platz und strich mit den Händen über die vergoldeten Greifenköpfe an den Armlehnen. Kowal setzte sich vorsichtig in einen Sessel ihm gegenüber. Die Möbel des Zarenhofs quietschten grässlich. Der Vampir auf dem Globus hob kurz eines seiner faltigen Lider, überließ sich aber gleich wieder seinen Träumen von der Jagd. Das Holz im Kamin brannte hell und gleichmäßig und verbreitete den unvergleichlichen Duft dörflicher Gemütlichkeit. Erst vor dem Hintergrund dieser heimeligen Wärme fühlte Artur, welch eisige Kälte durch alle Ritzen drang.
»Du hast Daljar und Louis gesagt, du wolltest mit jemandem sprechen, der sich an die Gesetze hält«, fuhr Lew fort, der nun eine recht offizielle Haltung einnahm. »Mit mir sitzt der Mann vor dir, der mit der Einhaltung und Stärkung ebendieser Gesetze betraut ist. Wenn ich einmal nicht mehr bin, wird mein Erbe diese Aufgabe übernehmen. Und es obliegt mir, neue Mitglieder der Kommune über unsere Gepflogenheiten aufzuklären. Wir Museumsleute haben nur wenige Gesetze, und diese wurden verfasst, als ich noch ein kleiner Junge war. Sie alle sind sehr einfach. Diebstahl, Vergewaltigung, Verrat und Mord werden mit dem Tod durch Erhängen bestraft. Schlägereien, Trunkenheit im Kampf, Arbeitsverweigerung, Beleidigung eines Museumsbewohners und Missachtung der Befehle des Rates werden mit einem Jahr Arbeit in der Metro oder Verbannung geahndet. Die Mehrheit zieht in diesem Fall die Arbeit in der Metro vor.«
»Weil das hier das reinste Paradies auf Erden ist?«
»Du brauchst gar nicht solch einen ironischen Ton anzuschlagen. Die einzelnen Kommunen stehen ständig in Kontakt miteinander. Ein Verbrecher hat daher bestenfalls die geringe Hoffnung, sich zu den Fabrikbanden durchzuschlagen. Denn selbst die Kommune im Alexander-Newski-Kloster würde keinen Dieb in ihren Reihen aufnehmen, mögen ihre Angehörigen auch noch so oft das Wort Humanismus im Mund führen.«
»Das heißt, jemand, der mit dem Leben hier nicht einverstanden ist, ist dem Tode geweiht?«
»Die Eremitage hält wirklich niemanden gegen seinen Willen fest, Artur. Wenn jemand der Kommune nichts schuldet, kann er jederzeit sein Bündel schnüren und sich ansiedeln, wo immer es ihm beliebt. Er darf sogar einen Soldaten für den Weg anheuern, falls er vielleicht nach Stockholm oder nach Helsinki möchte. Es steht ihm zudem frei, zurückzukommen und einen zweiten Eid zu leisten. Aber soweit ich dich verstanden habe, interessiert dich vor allem die gewaltsame Aneignung von Macht. Lass mich dafür noch einmal ausholen: Unsere Kommune existiert bereits seit siebzig Jahren, damit blickt sie auf die längste Tradition aller Kommunen in Petersburg zurück. An ihrem Anfang stand Mam Xenia, Friede ihrer Asche. Und nur weil wir die Tradition pflegen, gibt es uns noch, während andere längst untergegangen sind. Jeder Pap, der von uns gewählt wird, schwört am Grab von Xenia, seinem Volk zu dienen. Sicher, auch er kann sich irren, wie jeder Mensch. Daher tagt der Rat jede Woche einmal ohne den Pap. Und jede Woche fragt er mich, den Hüter der Gesetze, ob der Pap wissentlich gegen die Interessen der Kommune gehandelt habe.« Auf diesen Satz ließ Lew ein beredtes Schweigen folgen.
»Und falls er das getan haben sollte, würde er in den Ruhestand geschickt?«, fragte Kowal mit leicht sarkastischem Ton.
»Michail übt sein Amt bereits im sechsten Jahr aus, und noch wählen die Menschen ihn immer wieder«, antwortete Lew gelassen. »Eine Entscheidung … der Art, wie du sie andeutest, hat der Rat meiner Erinnerung nach überhaupt erst zweimal getroffen. Dergleichen ist nie leicht, denn danach kann es zu einem Aufstand kommen … Ich habe dir doch unmissverständlich gesagt, wie unsere Gesetze lauten: Verrat wird mit dem Tod bestraft. Dafür ist nicht mal ein Gericht nötig. Ein Pap, der sein Volk verrät, wird unverzüglich dem Henker
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