Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
Augenwinkeln eine Wanne sowie eine kleine Küche mit einem Kerosinkocher: Die zukünftigen Mütter bekamen schon heute allen Komfort zugestanden.
Sobald sich die Karawane in Bewegung gesetzt hatte, schlenderte Artur von einem Sehschlitz zum nächsten. Er war recht gehobener Stimmung, denn innerhalb von vierundzwanzig Stunden war er vom unglücklichen, nackten Relikt der Vergangenheit zu einer bedeutenden Persönlichkeit aufgestiegen. Sie passierten die Durchfahrt des Generalstabs, bogen erst auf den Newski, dann in die Sadowaja Uliza ein, gerieten bei den Barrikaden am Moskowski Prospekt etwas ins Stocken, hatten danach aber freie Bahn. Die Viertel im Stadtzentrum hatten besonders stark unter den Straßenkämpfen zu leiden gehabt. Artur konnte nur ahnen, welch grauenhafte Dramen sich hier vor hundert Jahren abgespielt haben mochten.
Dem früheren Gourmettempel Jelissejew fehlte die halbe Fassade, die verkohlten Torbögen am Kaufhaus Gostiny Dwor staken aus dem Boden wie die Rippen eines untergegangenen Seeungeheuers. Die Spitze der einstigen Duma war garantiert mit Kanonen beschossen worden. Doch auch andere Gebäude wiesen fürchterliche Zerstörungen auf. Die Dächer der Geschäftszeilen sahen aus, als hätte ein Riese seinen Fuß auf sie gesetzt. Aus den zerschlagenen Fenstern des Kaufhauses Passage wucherte Gras. Klodts mächtige Hengste zierten noch immer den Narva-Triumphbogen, dafür war der Palast der Belosselski-Beloserskis bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Andererseits sorgte jemand dafür, dass im Zentrum regelmäßig die vorstürmende Armee aus Gebüschen verbrannt und die Fahrbahn mit Balken ausgelegt wurde. Vor einer Metrostation wuselten Dutzende von Menschen herum, in der Sadowaja zogen zwei Pferde scheppernd eine Straßenbahn, auf die ein Kran montiert war, der wie ein Pfeil in den Himmel aufragte. Die Metroleute ließen die Karawane sofort durch, winkten ihr nach, ja jemand schlug sogar ein Kreuz über dem Traktor und zwei ältere Frauen in Schwarz hielten Ikonen hoch.
Im Moskowski Prospekt stoppten sie das erste Mal, etwa auf der Höhe des Parks Pobedy. Charly rief mit einem der drei vorsintflutlichen Telefone, die an der Wand in ihrem Abteil angebracht waren, Arina an, brummte etwas und fluchte verärgert: Eine Bande mit dem klangvollen Namen Achte Division wagte es doch tatsächlich, mit Geldforderungen an sie heranzutreten. Die Mitglieder dieser Clique lauerten in den umliegenden Stalinbauten und in der neuen Russischen Bibliothek, hatten sich dort geradezu häuslich niedergelassen, züchteten im einstigen Sportstadion Vieh und unterhielten in ihm eine gar nicht mal schlechte Pferderennbahn.
Kowal folgte Charly in einen kleinen Aufbau auf dem Dach des Waggons, doch nicht einmal von dort konnte er erkennen, was an der Spitze des Zuges vor sich ging. Den Passagieren war es jedoch untersagt worden, den Wagen bei außerplanmäßigen Stopps zu verlassen. Charly ging wieder hinunter, setzte sich noch einmal mit Arina in Verbindung und erfuhr, dass die Achte Division das Recht auf ihrer Seite hatte: Die Museumsleute schuldeten ihr laut einer alten Vereinbarung zwanzig Arbeitstage oder die entsprechende Summe in Gold. Nachdem das in beiderseitigem Einvernehmen geklärt worden war, heulte der Kirowez auf, während jemand auf dem ersten Waggon eine Glocke läutete. Die gigantischen Räder rumpelten abermals über das alte Straßenpflaster.
Artur presste sich an einen der Sehschlitze. Was er sah, konnte er einfach nicht glauben. Am Straßenrand standen vier Panzer. Obwohl die Ketten der Kriegsfahrzeuge seit Langem vom Unkraut durchbohrt worden waren, wirkten die Geschütztürme noch, als könnten sie sich tadellos drehen. Auf den in frischer Farbe leuchtenden Rohren saßen junge Männer in kurzen Armeemänteln aus Lammfell über dem nackten Körper und schickten der Karawane nachdenkliche Blicke hinterher.
»Charly!«, sagte Kowal. »Mussten wir diese Hungerleider wirklich bezahlen?«
»Wie soll ich dir das erklären?« Rokotow schnitt eine komisch verzweifelte Grimasse. »Diese Bande kontrolliert nun einmal die Straße nach Süden. Außerdem veranstalten sie manchmal Wettrennen oder Faustkämpfe und laden Leute dazu ein. Es gibt hier nicht allzu viele Möglichkeiten, sich zu amüsieren …«
»Knöpfen sie also allen, die hier durchwollen, Geld ab?«
»Das würde ihnen kaum gelingen. Aber denen, die Wert auf eine gute Straße legen, schon. Jeder Reiter umgeht ihren Posten allerdings über
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