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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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breitete sich aus und überzog dabei das Gras mit einem Silbermantel.
    Tausend Matrosen in Weiß umstanden in einem Ring die Flammenwand. Einer davon bedeutete Lawrence mit erhobener Hand anzuhalten. Lawrence kam neben ihm zum Stehen und stellte einen Fuß auf den Boden, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er und der Matrose starrten einander einen Moment lang an, dann sagte Lawrence, dem nichts anderes einfiel: »Ich bin auch bei der Navy.« Der Matrose schien sich über irgendetwas schlüssig zu werden. Er grüßte, winkte Lawrence durch und deutete auf ein kleines Gebäude neben dem Feuer.
    Das Gebäude sah nur wie eine im Feuerschein glühende Mauer aus, doch zuweilen ließ eine Salve von magnesiumblauem Licht die Fensterrahmen aus der Dunkelheit hervorspringen, ein rechteckiger Blitzschlag, der viele Male durch die Nacht zuckte. Lawrence fing wieder an, in die Pedale zu treten und fuhr an dem Gebäude vorbei: ein durcheinander quirlender Schwarm alerter Filzhutträger, die mit dicken Bleistiften in kleine, schmale Notizbücher kritzelten, Fotografen im Krebsgang, die ihre riesigen Chromgänseblümchen hierhin und dahin drehten, verkohlte Reihen von Menschen, die mit Decken auf dem Gesicht schliefen, ein schwitzender Mann mit Brillantine im Haar, der Namen mit Umlauten an eine Wandtafel schrieb. Als Lawrence schließlich um dieses Gebäude herum war, roch er heißes Dieselöl, spürte die Hitze der Flammen im Gesicht und sah zu ihnen hingekräuselten, vertrockneten Strandhafer.
    Er starrte auf die Weltkugel hinab, nicht die mit Kontinenten und Ozeanen überzogene Weltkugel, sondern nur ihr Skelett: ein Gewirr von Meridianen, nach hinten gebogen, um eine orangefarbene Flammenkuppel im Innern einzusperren. Vor dem Licht des brennenden Öls waren die Längengrade so dünn und klar wie die Tintenstriche eines Zeichners. Doch im Näherkommen sah Lawrence, dass sie sich in ein raffiniertes Gerüst aus Ringen und Streben, hohl wie Vogelknochen, auflösten. Während sie sich vom Pol wegwölbten, entfernten sie sich früher oder später von der Richtung, spalteten sich in gebogene Teile auf oder brachen einfach ab und hingen, wie trockene Strünke schillernd, im Feuer. Hier und da wurde die vollkommene Geometrie auch von einem Seilgewirr oder Kabelbäumen gestört. Lawrence fuhr beinahe über eine zerbrochene Weinflasche und beschloss, zu Fuß weiterzugehen, um seine Reifen zu schonen; er legte das Fahrrad hin und das Vorderrad kam auf eine Aluminiumvase zu liegen, die offenbar auf einer Drehbank gefertigt war und aus der ein paar verkohlte Rosen hingen. Ein paar Matrosen hatten sich an den Händen gefasst, sodass eine Art Thron entstand, auf dem sie ein menschenförmiges Stück Kohle dahintrugen, das einen Overall aus makellosem Asbest anhatte. Im Gehen verfingen sich ihre Schuhspitzen immer wieder in einem weitläufig verästelten Gewirr aus Seilen und Klavierdrähten, Tauen und Kabeln, verstohlene, ständig neue Formen schaffende Bewegungen in Gras und Sand über Dutzende von Metern in alle Richtungen. Lawrence begann, sehr bedächtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, und versuchte dabei, die Größe dessen zu ermessen, was er hier gesehen hatte. Eine raketenförmige Hülse ragte schräg aus dem Sand, gekrönt von einem Schirm aus verbogenen Propellern. Über ihm rankten sich die Duralumin-Streben und -Stege noch kilometerweit. Er traf auf einen aufgeplatzten Koffer mit einem Paar Frauenschuhe, ausgestellt wie im Schaufenster eines mondänen Geschäfts, eine Speisekarte, die zu einem ovalen Glimmen verkohlt war, und dann auf ein paar zerfranste Wandplatten, als wäre ein ganzes Zimmer vom Himmel gefallen – sie waren verziert, eine mit einer riesigen Weltkarte, auf der große, von Berlin ausgehende Bögen sich auf Städte nah und fern stürzten, eine andere mit dem Foto eines berühmten dicken Deutschen in Uniform, der grinsend auf einem blumengeschmückten Podest stand, hinter sich den riesigen Horizont eines neuen Zeppelins.
    Nach einer Weile sah Lawrence nichts Neues mehr. Da stieg er auf sein Fahrrad und machte sich auf den Rückweg durch die Pine Barrens. Er verfuhr sich im Dunkeln und fand deshalb erst im Morgengrauen zum Feuerausguck zurück. Aber dass er sich verfuhr, machte ihm nichts aus, denn während er im Dunkeln herumradelte, dachte er über die Turing-Maschine nach. Schließlich gelangte er wieder zu dem Teich, an dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das Morgenlicht warf einen rötlichen

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