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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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weggeschmissenen Autoreifen herauszubekommen.
    Da die Shaftoes nicht an der Tür warten, um ihm zu sagen, es sei alles nur ein Scherz gewesen, strafft Randy die Schultern und marschiert tapfer durch die großzügige Halle, ganz allein, wie ein Infanterist der Südstaatenarmee bei Pickett’s Charge, der letzte Mann seines Regiments. Ein Fotograf mit der Pompadourfrisur Ronald Reagans und einem weißen Smoking hat sich an der Tür zu dem großen Ballsaal postiert und macht Fotos von Leuten, die hineingehen, in der Hoffnung, dass sie ihm, wenn sie wieder herauskommen, Abzüge davon abkaufen. Randy wirft ihm einen so grimmigen Blick zu, dass der Finger des Mannes vom Auslöser zurückzuckt. Dann heißt es durch die großen Türen und in den Ballsaal, wo unter herumwirbelnden bunten Lichtern Hunderte von Filipinas mit zumeist viel jüngeren Männern zu den Klängen der Neuauflage eines Carpenter-Songs tanzen, die ein kleines Orchester in der Ecke produziert. Randy blecht ein paar Pesos für ein Ansteckbukett aus Sampaguita-Blumen. Er hält es auf Armeslänge von sich weg, damit er durch seine Düfte nicht in ein diabetisches Koma gestürzt wird, und startet zu einer magellanschen Umseglung der Tanzfläche, die von einem Atoll aus runden Tischen mit weißen Leinentischtüchern, Kerzen und Glasaschenbechern eingefasst wird. An einem dieser Tische sitzt, den Rücken zur Wand, mit einem dünnen Schnurrbart und einem Handy am Kopf ein einzelner Mann, dessen eine Gesichtshälfte durch das unheimliche grüne Licht der Handytastatur fluoroskopisch angestrahlt wird. Aus seiner Faust ragt eine Zigarette.
    Grandma Waterhouse bestand darauf, dass der siebenjährige Randy Tanzstunden nahm, denn eines Tages würde es sich als nützlich erweisen. Er erlaubte sich, das anders zu sehen. In den Jahrzehnten seit ihrer Ankunft in Amerika hatte ihr australischer Akzent einen hochmütigen und eher englischen Ton angenommen, oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Da saß sie, kerzengerade wie immer, auf ihrem geblümten Chintzsofa von Gomer Bolstrood, hinter sich das durch Spitzenvorhänge sichtbare Hügelpanorama der Palouse Range, und trank Tee aus einer weißen Porzellantasse, die dekoriert war mit – waren es lavendelfarbene Rosen? Wenn sie die Tasse zum Trinken schräg hielt, muss der siebenjährige Randy in der Lage gewesen sein, den Namen des Porzellandekors auf der Unterseite zu lesen. Die Information muss irgendwo in seinem Unterbewussten abgelegt sein. Vielleicht könnte ein Hypnotiseur sie hervorholen.
    Der siebenjährige Randy hatte allerdings anderes im Kopf, nämlich in allerschärfster Form gegen die Behauptung zu protestieren, die Beherrschung von Tanzschritten könne je von irgendwelchem Nutzen sein. Gleichzeitig wurde er aber auch geprägt. Unwahrscheinliche, ja geradezu absurde Gedanken sammelten sich in seinem Gehirn, unsichtbar und geruchlos wie Kohlenmonoxid: dass Palouse Country eine normale Landschaft war. Dass der Himmel überall so blau war. Dass ein Haus Spitzengardinen, Bleiglasfenster und Zimmer voller Gomer-Bolstrood-Möbel haben musste.
    »Ich habe deinen Großvater Lawrence auf einem Tanzabend kennen gelernt, in Brisbane«, verkündete Grandma. Sie versuchte ihm klarzumachen, dass er, Randall Lawrence Waterhouse, ohne die Ausübung des Gesellschaftstanzes gar nicht existieren würde. Randy wusste damals ohnehin noch nicht, woher die Babys kamen, aber auch sonst hätte er das wahrscheinlich nicht verstanden. Randy dachte an seine Körperhaltung, warf sich in Positur und stellte ihr eine Frage: Kam es zu dieser Begegnung in Brisbane, als sie sieben Jahre alt war oder vielleicht ein bisschen später?
    Hätte sie in einem Wohnwagen gelebt, hätte Randy als Erwachsener sein Geld vielleicht in einen Immobilienfonds investiert, statt einem soi-disant Kunsthandwerker aus San Francisco zehntausend Dollar dafür zu zahlen, dass er ihm wie in Grandmas Haus rund um die Eingangstür Bleiglasfenster einbaut.
    Den Shaftoes bereitet er ein ungeheures, lang anhaltendes Vergnügen, indem er schnurstracks an ihrem Tisch vorbeigeht, ohne sie zu erkennen. Sein Blick ist direkt auf Doug Shaftoes Begleiterin gerichtet, eine atemberaubende Filipina, vermutlich in den Vierzigern, die gerade dabei ist, ein überzeugendes Argument vorzubringen. Ohne das Gesicht von Doug und Amy Shaftoe abzuwenden, streckt sie einen langen grazilen Arm aus, greift, als Randy vorbeigeht, nach seinem Handgelenk und reißt ihn zurück wie einen

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