Cryptonomicon
Hund an der Leine. Sie hält ihn fest, während sie ihren Satz zu Ende spricht, und schaut ihn dann mit strahlendem Lächeln an. Pflichtbewusst lächelt Randy zurück, schenkt ihr aber nicht die volle Aufmerksamkeit, die sie anscheinend gewohnt ist, da er eher mit dem Anblick von America Shaftoe im Kleid beschäftigt ist.
Zum Glück hat Amy sich nicht für den Aufzug der Königin des Schülerballs entschieden. Sie trägt ein eng anliegendes schwarzes Kleidungsstück mit langen Ärmeln, die ihre Tätowierungen verbergen, dazu eine schwarze Strumpfhose – keine Strümpfe, wohlgemerkt. Wie ein Quarterback, der einem Runner das Leder übergibt, händigt Randy ihr die Blumen aus. Mit der verzerrten Miene eines verwundeten Soldaten, der auf eine Kugel beißt, nimmt sie sie entgegen. Sieht man von der Ironie ab, hat sie einen Glanz in den Augen, den er bis dahin noch nicht gesehen hat. Vielleicht ist es aber auch nur das Licht des Spiegelsaals, das von Zigarettenrauch induzierten Tränen reflektiert wird. Instinktiv spürt er, dass es richtig war herzukommen. Wie bei allen instinktiven Gefühlen wird die Zeit zeigen, ob es sich dabei um eine erbärmliche Selbsttäuschung handelt. Irgendwie hat er Angst gehabt, sie würde sich nach Hollywoodart in eine strahlende Gottheit verwandeln, was auf Randy etwa denselben Effekt gehabt hätte wie eine Axt auf die Schädelbasis. Tatsache ist, dass sie ziemlich gut aussieht, nur eben genauso deplatziert wie Randy in seinem Anzug.
Er hofft, dass sie das mit dem Tanzen gleich hinter sich bringen können, damit er, Aschenputtel gleich, voller Schmach aus dem Gebäude entfliehen kann, doch sie bitten ihn, Platz zu nehmen. Das Orchester macht eine Pause und die Tänzer kehren an ihre Tische zurück. Doug Shaftoe hat sich mit dem männlichen Selbstvertrauen eines Mannes, der nicht nur Menschen getötet, sondern die schönste Frau im Saal zur Begleiterin hat, bequem auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Sie heißt Aurora Taal und lässt mit der beherrschten Belustigung einer Frau, die in Boston, Washington und London gelebt, alles gesehen hat und trotzdem zurückgekommen ist, um in Manila zu leben, ihren makellos geschminkten Blick über die anderen Filipinas gleiten.
»Und, haben Sie noch etwas über diesen Rudolf von Hacklheber rausgekriegt?«, fragt Doug nach ein paar Minuten Smalltalk. Daraus folgt, dass Aurora über das ganze Geheimnis im Bilde sein muss. Vor Wochen erwähnte Doug einmal, dass eine Hand voll Filipinos darüber Bescheid wüssten, was sie machten, und dass man ihnen vertrauen könne.
»Er war Mathematiker. Stammte aus einer wohlhabenden Leipziger Familie. Vor dem Krieg war er in Princeton. Seine Zeit dort überschnitt sich tatsächlich mit der meines Großvaters.«
»Welche Art von Mathematik betrieb er, Randy?«
»Vor dem Krieg beschäftigte er sich mit der Zahlentheorie. Was uns nichts darüber sagt, was er während des Krieges tat. Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn er am Ende im Krypto-Apparat des Dritten Reiches gearbeitet hätte.«
»Was nicht erklären würde, warum er am Ende hier gelandet ist.« Randy zuckt die Schultern. »Vielleicht war er mit der Konstruktion der neuen Unterseeboot-Generation beschäftigt. Keine Ahnung.«
»Das heißt, das Reich betraute ihn mit irgendeiner geheimen Tätigkeit, die ihn schließlich umbrachte«, sagt Doug. »Darauf wären wir vermutlich auch allein gekommen.«
»Warum haben Sie eigentlich von Krypto gesprochen?«, fragt Amy. Sie besitzt eine Art emotionalen Metalldetektor, der aufkreischt, sobald er in die Nähe versteckter Vermutungen und hastig unterdrückter Impulse kommt.
»Wahrscheinlich habe ich ein Kryptogehirn. Und wenn es nun irgendeine Verbindung zwischen Hacklheber und meinem Großvater gab -«
»War Ihr Großvater ein Krypto-Mensch, Randy?«, fragt Doug.
»Über das, was er im Krieg gemacht hat, hat er nie ein Wort verloren.«
»Klassisch.«
»Aber er hatte so eine Truhe oben auf dem Dachboden. Ein Souvenir aus dem Krieg. Daran musste ich übrigens denken, als ich neulich in einem Keller in Kinakuta eine Truhe mit japanischem Verschlüsselungsmaterial gesehen habe.« Doug und Amy starren ihn an. »Aber vermutlich hat das alles gar nichts zu sagen«, resümiert Randy.
Mit einer Sinatra-Melodie legt das Orchester wieder los. Doug und Aurora lächeln sich an und stehen auf. Amy verdreht die Augen und schaut weg, aber jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen und Randy kann der Situation nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher