Cryptonomicon
(meint Randy) als Anknüpfungspunkt benutzt, um in Erinnerungen an die gute alte Zeit in Seattle zu schwelgen. Für Avi ist das eher ungewöhnlich; normalerweise ist eine Unterhaltung mit ihm entweder geschäftlicher oder persönlicher Natur, aber nie beides gleichzeitig. »Ich werde nie vergessen«, sagt Randy, »wie ich auf das Dach von Andrews Haus gestiegen bin, um mit ihm über die Software zu sprechen und dabei noch gedacht habe: ›Mensch, ist das toll‹, und dann zusehen musste, wie er langsam, aber sicher vor meinen Augen durchdrehte. Man hätte fast glauben können, er wäre vom Teufel besessen.«
»Sein Vater hat das ja wohl auch geglaubt«, sagt Avi. »Es war doch sein Vater, oder?«
»Das ist schon so lange her. Ja, ich glaube seine Mutter war diejenige, bei der er damals in dieser Hippie-Kommune lebte, und sein Vater derjenige, der ihn dann mit Gewalt da rausholte – das heißt, er hat diese paramilitärischen Typen aus Nord-Idaho geschickt, um den Job für ihn zu erledigen, und sie haben Andrew buchstäblich in einem Sack entführt – und dann hat er mit allen möglichen Therapiemethoden verdrängte Erinnerungen aus ihm herauskitzeln lassen, um zu beweisen, dass man ihn bei satanistischen Ritualen missbraucht hatte.«
Das lässt Avi aufhorchen. »Meinst du, sein Vater stand auf dem Milizding?«
»Ich habe ihn nur einmal gesehen. Während des Prozesses. Er hat meine eidliche Aussage entgegengenommen. Er war einfach so ein Orange-County-Nobelanwalt aus einer Riesenkanzlei mit einem Haufen Asiaten, Juden und Armeniern. Ich nehme mal an, er benutzte die Aryan Nation-Typen, weil sie fleißig und billig zu haben waren.«
Avi nickt, die Hypothese scheint ihm einzuleuchten. »Also war er wahrscheinlich kein Nazi. Hat er wirklich an Missbrauch durch satanische Riten geglaubt?«
»Das bezweifle ich«, antwortet Randy. »Obwohl es mir, nachdem ich Andrew eine Weile erlebt hatte, völlig plausibel vorkam. Müssen wir eigentlich darüber reden? Ich kriege eine Gänsehaut davon«, sagt Randy. »Das macht mich richtig fertig.«
»Ich habe kürzlich erfahren, was aus Andrew geworden ist«, sagt Avi.
»Ich habe vor einiger Zeit seine Website gesehen.«
»Ich spreche von allerneuesten Entwicklungen.«
»Lass mich raten. Selbstmord?«
»Nein.«
»Serienmörder?«
»Nein.«
»Wegen ständiger Belästigung irgendwelcher Leute im Gefängnis?«
»Er ist weder tot noch im Gefängnis«, antwortet Avi.
»Hmmm. Hat es irgendwas mit seinem Schwarmbewusstein zu tun?«
»Nein. Ist dir klar, dass er Jura studiert hat?«
»Ja. Hat es mit seiner Karriere als Jurist zu tun?«
»Allerdings.«
»Also, wenn Andrew Loeb praktizierender Jurist ist, dann nur in einer absolut langweiligen und gesellschaftlich gesehen wenig konstruktiven Form. Wahrscheinlich hängt er Leuten aus nichtigen Gründen Klagen an.«
»Ausgezeichnet«, sagt Avi. »Langsam wird es wärmer.«
»Gut, sag’s mir nicht, lass mich nachdenken«, sagt Randy. »Praktiziert er in Kalifornien?«
»Ja.«
»Aha, dann hab ich’s.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Andrew Loeb ist bestimmt einer von diesen Burschen, die Klagen von Minderheitsaktionären gegen Hightechfirmen einreichen.«
Avi lächelt mit fest zusammengepressten Lippen und nickt.
»Dafür ist er genau der Richtige«, fährt Randy fort, »der macht das nämlich aus vollster Überzeugung. Und hält sich dabei bestimmt nicht für den letzten Arsch. Er glaubt allen Ernstes, dass er eine Gruppe von Aktionären vertritt, die von der Unternehmensleitung in satanistischen Ritualen missbraucht worden sind. Der arbeitet bestimmt sechsunddreißig Stunden am Stück und wühlt dabei jede Menge Dreck auf. Verdrängte Firmenerinnerungen. Kein Trick ist ihm zu mies, denn er steht ja auf der Seite der Rechtschaffenheit. Schlafen oder essen tut der nur auf ausdrückliche medizinische Anweisung.«
»Du kennst ihn ja offenbar unglaublich gut«, sagt Avi.
»Und ob! Und wen verklagt er im Moment?«
»Uns«, antwortet Avi.
Hier folgt eine fünfminütige Pause im Gespräch, in ihrem Spaziergang und womöglich auch in einigen von Randys neurologischen Abläufen. Seine Farbwahrnehmung gerät völlig aus den Fugen: Alles erscheint in stark ausgebleichten Gelb- und Purpurtönen. Als lägen irgendjemandes feuchtkalte Finger um seinen Hals und reduzierten den Durchfluss in seiner Halsschlagader auf das zum Überleben notwendige Minimum. Als Randy schließlich sein volles Bewusstsein wiedererlangt, richtet er den Blick
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