Cryptonomicon
melodramatisch findet, bis ihm wieder einfällt, dass das Buch von Leuten geschrieben wurde, die vermutlich gar nicht wussten, was »melodramatisch« bedeutet, die in einer völlig anderen vor-melodramatischen Welt lebten, in der Flugzeuge wirklich über dem Meer verschwanden und die Leute in den Maschinen nie wieder zu ihren Familien zurückkehrten und in der man, wenn man im Gespräch den Begriff Melodramatik auch nur ansprach, wahrscheinlich am Ende bemitleidet, gemieden oder sogar zur Psychoanalyse geschickt wurde.
Randy kommt sich ziemlich erbärmlich vor, wenn er darüber nachdenkt. Er wundert sich über Chester. Ist die zerborstene 747, die an Chesters Decke hängt, nur ein monumentaler Beweis schlechten Geschmacks oder will er mit diesem Ding eine bestimmte Aussage machen? Könnte es sein, dass der spinnerte Chester in Wirklichkeit so etwas wie ein scharfsinniger Denker ist, der über die Banalität und Oberflächlichkeit seiner Zeit hinausgegangen ist? Genau darüber haben ernst zu nehmende Menschen ausführlich diskutiert, weshalb auch immer wieder an unerwarteten Stellen wissenschaftliche Artikel über Chesters Haus auftauchen. Randy fragt sich, ob er je in seinem Leben eine ernsthafte Erfahrung gemacht hat, die die Zeit wert wäre, die es brauchte, um sie auf eine prägnante, mit STOPs durchsetzte Nachricht in Großbuchstaben zu reduzieren und über ein Kryptosystem laufen zu lassen.
Soeben müssen sie an der Position des Wracks vorbeigeflogen sein. In ein paar Tagen wird Randy umkehren und bis nach Kinakuta zurückfliegen, um dort seinen wenn auch noch so läppischen Beitrag zur Bergung der Goldbarren aus dem Wrack zu leisten. Nach Manila fliegt er nur, um sich dort um eine geschäftliche Angelegenheit zu kümmern; irgendein dringendes Treffen, um das einer der philippinischen Geschäftspartner von Epiphyte ersucht hatte. Die Sache, um derentwillen Randy vor anderthalb Jahren nach Manila kam, läuft mittlerweile fast von allein, und wenn er sich tatsächlich einmal darum kümmern muss, findet er es stinklangweilig.
Ihm wird klar, dass die Anwendung moderner Denkmuster auf Cryptonomicon ihn seinem Ziel, die Arethusa-Funksprüche zu entschlüsseln, nicht wesentlich näher bringen wird. Die ursprünglichen Verfasser des Cryptonomicon mussten diese verdammten Nachrichten tatsächlich entschlüsseln und lesen, um das Leben ihrer Landsleute zu retten. Die modernen Kommentatoren dagegen haben letztlich kein Interesse daran, anderer Leute Botschaften zu lesen; der einzige Grund, warum sie sich überhaupt damit beschäftigen, besteht darin, dass sie neue Kryptosysteme entwerfen wollen, die weder von der NSA noch von diesem neuen Verein, der IDTRO, geknackt werden können. Der Black Chamber. Kryptographie-Experten trauen einem Kryptosystem erst, wenn sie es angegriffen haben, und angreifen können sie es nur, wenn sie die grundlegenden Methoden der Kryptoanalyse kennen, daher die Nachfrage nach einem Dokument wie dieser modernen kommentierten Fassung des Cryptonomicon. Allerdings gehen ihre Angriffe in der Regel nicht weiter als bis zur Demonstration der Schwächen des Systems auf abstrakter Ebene. Sie wollen lediglich in der Lage sein zu sagen, theoretisch könnte dieses System folgendermaßen angegriffen werden, denn unter dem formalen Aspekt der Zahlentheorie gehört es zu der Soundso-Klasse von Problemen, und bei Angriffen auf diese Gruppe von Problemen braucht man soundso viele Prozessorzyklen. Und das alles passt ausgezeichnet zu modernen Denkmustern, bei denen man, um ein Gefühl für die eigene Leistung zu bekommen und Lob von Seiten der Kollegen einzuheimsen, nichts anderes zu tun braucht, als die Fähigkeit unter Beweis zu stellen, neue Fallbeispiele in den richtigen intellektuellen Schubladen abzulegen.
Doch die Kluft zwischen dem Aufzeigen der Verwundbarkeit eines Systems in der Theorie und der tatsächlichen Entschlüsselung von Nachrichten, die in diesem Kryptosystem verfasst sind, ist so weit und so tief wie die Kluft zwischen der Fähigkeit, einen Film zu kritisieren (z. B. indem man ihn einem bestimmten Genre oder einer Bewegung zuordnet) und der Fähigkeit, mit einer Filmkamera und einem Haufen unbelichteter Filme loszuziehen und selbst einen zu drehen. Über diese Dinge wird man im Cryptonomicon nur etwas erfahren, wenn man sich bis zu seinen ältesten und tiefsten Schichten hinunterarbeitet. Von denen manche, vermutet Randy, von seinem Großvater geschrieben wurden.
Die Chefstewardess
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