Cryptonomicon
kommt an die Oberfläche und tut lange Zeit nichts anderes als Wasser zu treten und saubere Luft zu atmen. Es ist Nacht, und zum ersten Mal seit einem Jahr ist es in Bundok still bis auf das Geräusch von Bong, der am Seeufer kniet, sich bekreuzigt und Gebete murmelt, so rasch sich seine Lippen bewegen können.
Wing hat sich schon davongemacht, ohne auch nur Lebewohl zu sagen. Goto Dengo findet das empörend, bis ihm aufgeht, was es bedeutet: Auch ihm steht es frei zu gehen. Für den Rest der Welt ist er tot, aller Verpflichtungen entledigt. Zum ersten Mal in seinem Leben kann er tun, was immer er will.
Er schwimmt an Land, rappelt sich hoch, marschiert los. Seine Knie schmerzen. Er kann nicht fassen, dass er das alles durchgestanden hat und sein einziges Problem schmerzende Knie sind.
VERHAFTUNG
»Kopi«, sagt Randy zu der Stewardess, überlegt dann aber noch einmal, weil ihm eingefallen ist, dass er diesmal Economyklasse fliegt und es vielleicht nicht so einfach ist, eine Toilette zu erreichen. Es ist nur eine kleine 757 der Malaysian Air. Die Stewardess sieht die Unentschlossenheit in seinem Gesicht und zögert. Ihr Gesicht ist eingerahmt von einem grell bunten, nur entfernt islamisch wirkenden Kopftuch, dem geringstmöglichen Zugeständnis an die Sittsamkeit, das er je gesehen hat. »Kopi nyahkafeina «, sagt Randy, woraufhin sie ihm strahlend aus der orangefarbenen Kanne eingießt. Nicht, dass sie nicht Englisch sprechen würde, aber Randy fängt gerade an, sich mit dem lokalen Sprachgemisch anzufreunden. Ihm wird bewusst, dass das der erste Schritt in einem langen Prozess ist, der ihn am Ende in einen dieser heiteren, kräftigen, sonnenverbrannten Auslandsamerikaner verwandeln wird, die die Flughafenbars und Shangri-La-Hotels der Anrainerstaaten des Pazifiks bevölkern.
Durch sein Fenster sieht er, parallel zu ihrer Flugrichtung, die lange schmale Insel Palawan. Ein durch dichten Nebel behinderter Pilot könnte praktisch von Kinakuta nach Manila fliegen, indem er sich an den Stränden von Palawan orientierte, aber an einem Tag wie diesem ist das eine rein akademische Überlegung. Die Strände fallen sanft ins durchsichtige Wasser des Südchinesischen Meers ab. Wenn man da unten im Sand sitzt und den Blick auf Augenhöhe über die Wellen schweifen lässt, sieht es wahrscheinlich nach nichts aus, aber von hier oben kann man viele Faden tief direkt durchs Wasser schauen, und so haben alle Inseln und sogar die Korallenriffe Einfassungen, die in Wassernähe mit Dunkel- oder Graubraun beginnen, dann in Gelb und schließlich Swimmingpoolblau übergehen, bevor sie sich im Tiefblau des Ozeans verlieren. Jedes kleine Korallenriff und jede Sandbank sieht aus wie das schillernde Auge auf einer Pfauenfeder.
Nach der Unterhaltung bei Tom Howard am Abend zuvor hat Randy in dessen Gästezimmer übernachtet und den größten Teil des Tages in Kinakuta damit verbracht, einen neuen Laptop, komplett mit neuem Festplattenlaufwerk, zu kaufen und die ganzen Daten von dem Laufwerk, das er in Los Altos gerettet hat, auf das neue zu übertragen und sie dabei zu verschlüsseln. Wenn er bedenkt, dass er diese ganzen absolut langweiligen und nutzlosen Firmenunterlagen nach allerneuesten Methoden verschlüsselt hat, kann er kaum glauben, dass er das Arethusa-Zeug mehrere Tage lang unverschlüsselt auf seinem Festplattenlaufwerk mit sich herumgetragen und sogar mehrere Staatsgrenzen damit überschritten hat. Ganz zu schweigen von den Original-ETC-Lochkarten, die jetzt im Safe in Tom Howards Keller liegen. Natürlich ist dieses Zeug verschlüsselt, aber das wurde 1945 gemacht und hätte nach modernen Maßstäben genauso gut mit einem Dekodierring aus einer Cornflakesschachtel chiffriert worden sein können. Jedenfalls ist das mehr oder minder Randys Hoffnung. Außerdem hat er heute Morgen noch die aktuelle Version des Cryptonomicon von dem FTP-Server, auf dem es in San Francisco liegt, heruntergeladen. Randy hat es sich noch nie im Einzelnen angeschaut, hat aber gehört, dass es Code-Beispiele oder wenigstens Algorithmen enthält, die er zur Entschlüsselung von Arethusa verwenden könnte. Mit etwas Glück könnten die neuesten öffentlichen Dekodiertechniken im Cryptonomicon der geheimen Technologie, die Pontifex und seine Kollegen bei der NSA vor dreißig Jahren benutzt haben, entsprechen. Bei den Arethusa-Funksprüchen, die sie damals zu entschlüsseln versuchten, haben diese Methoden nicht funktioniert, aber das lag sicher daran,
Weitere Kostenlose Bücher