Cryptonomicon
über die Fläche des Sees gestülpt. Doch am Rand, in einiger Entfernung backbords, zeigt sich eine waagerechte Ritze, durch die gelbes Licht sickert. Das Licht schimmert und funkelt wie Sterne, wenn man sie durch die Hitzewellen über der Motorhaube eines Autos sieht.
Er setzt sich auf, späht hinüber, bekommt ganz allmählich eine Vorstellung von den Größenverhältnissen.Vom Boot aus gesehen, erstreckt sich der zerrissene gelbe Lichtstreifen von acht Uhr ganz um den Bug herum bis ungefähr ein Uhr.Vielleicht irgendein unglaublich merkwürdiges Phänomen in Zusammenhang mit dem Sonnenaufgang.
»Meiniela«, sagt eine Stimme hinter ihm.
»Was?«
»Das ist Manila«, sagt eine andere Stimme, näher bei ihm, die den Namen englisch ausspricht.
»Warum ist es so hell?« Bobby Shaftoe hat seit 1941 keine Stadt mehr nachts erleuchtet gesehen und er hat vergessen, wie das aussieht.
»Die Japaner haben die Stadt in Brand gesteckt.«
»Die Perle des Orients!«, sagt jemand weiter hinten im Boot und man hört wehmütiges Gelächter.
Shaftoe bekommt allmählich einen klareren Kopf. Er reibt sich die Augen und sieht genauer hin. Ein paar Kilometer backbord saust ein Stahlfass voller Treibstoff wie eine Rakete in den Himmel und verschwindet. Nach und nach kann er vor dem Hintergrund der Flammen die knochigen Silhouetten von Palmen am Seeufer ausmachen. Das Boot bewegt sich weiter still über das warme Wasser, winzige Wellen plätschern gegen seinen Rumpf. Shaftoe ist zumute, als wäre er gerade geboren worden, ein neuer Mensch, der in eine neue Welt eintritt.
Jeder andere würde fragen, warum sie auf die brennende Stadt zuhalten, anstatt davor zu fliehen. Aber Shaftoe fragt nicht, so wenig, wie ein Neugeborenes Fragen stellen würde. Das ist die Welt, in die er hineingeboren wurde, und er betrachtet sie mit großen Augen.
Der Mann, der mit ihm gesprochen hat, sitzt neben Shaftoe auf dem Dollbord, ein bleiches, über einem schwarzen Gewand schwebendes Gesicht, im Kragen ein weißer, rechteckiger Schlitz. Das Licht der brennenden Stadt bricht sich als warmer Schimmer in einer Schnur bernsteinfarbener Perlen, an der ein schweres, leise schwingendes Kruzifix hängt. Shaftoe legt sich wieder im Bootsrumpf zurück und starrt eine Weile zu seinem Gegenüber auf.
»Man hat mir Morphium gegeben.«
»Ich habe Ihnen Morphium gegeben. Sie waren schwer zu bändigen.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagt Shaftoe vollkommen aufrichtig. Er erinnert sich an die China-Marines, die zu viel Asien abgekriegt hatten, und wie sie sich auf der Fahrt von Schanghai aufgeführt haben.
»Wir konnten keinen Lärm gebrauchen. Die Japaner hätten uns gefunden.«
»Ich verstehe.«
»Glory zu sehen war ein sehr schlimmer Schock für Sie.«
»Seien Sie ehrlich zu mir, Padre«, sagt Bobby Shaftoe. »Mein Junge. Mein Sohn. Hat er auch Lepra?«
Die schwarzen Augen schließen sich und das fahle Gesicht bewegt sich zu einem Nein hin und her. »Glory hat sich kurz nach der Geburt des Kindes angesteckt, als sie in einem Lager in den Bergen arbeitete. In dem Lager ging es nicht sehr sauber zu.«
Shaftoe schnaubt. »Das glaub ich gern!«
Es folgt ein langes, unbehagliches Schweigen. Dann sagt der Padre: »Den anderen Männern habe ich die Beichte schon abgenommen. Möchten Sie jetzt auch beichten?«
»Tun das die Katholiken, wenn es ans Sterben geht?«
»Sie tun es ständig. Aber Sie haben Recht, es ist ratsam, unmittelbar vor dem Tod zu beichten. Es hilft – wie sagt man doch gleich – den Weg zu ebnen. Im Jenseits.«
»Padre, für mich sieht es so aus, als würden wir in ein, zwei Stunden den Strand stürmen. Wenn ich jetzt anfange, Ihnen meine Sünden zu beichten, kommen wir vielleicht gerade mal bis zum Kekseaus-der-Keksdose-Klauen, als ich acht war.«
Der Padre lacht. Irgendwer reicht Shaftoe eine bereits angezündete Zigarette. Er nimmt einen tiefen Zug.
»Wir hätten gar keine Zeit mehr, uns mit den richtig guten Sachen zu befassen, wie zum Beispiel, dass ich Glory genagelt und eine ganze Menge Nips und Krauts um die Ecke gebracht habe.« Shaftoe denkt einen Moment lang darüber nach und genießt dabei seine Zigarette. »Aber wenn das eine dieser Geschichten ist, wo wir alle ins Gras beißen – und für mich sieht es ganz danach aus -, dann muss ich noch eines erledigen. Fährt das Boot wieder nach Calamba?«
»Wir hoffen, dass der Besitzer ein paar Frauen und Kinder über den See mit zurücknehmen kann.«
»Hat jemand
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