Cryptonomicon
für die nächste Etappe füllen können.
»Okay«, sagt Goto Dengo, »weiter.« Er tastet im Dunkeln nach Rodolfo und klopft ihm ermutigend auf die Schulter. Rodolfo holt mehrmals tief Atem und macht sich bereit, während Goto Dengo die Zahlen herunterbetet, die sie alle auswendig kennen: »Fünfundzwanzig Züge geradeaus. Dann knickt der Tunnel nach oben ab. Vierzig Züge einen steilen Anstieg hinauf. Wo der Tunnel erneut abknickt, schwimmt ihr genau nach oben in die nächste Luftkammer.«
Rodolfo nickt, bekreuzigt sich, macht dann im Wasser einen Purzelbaum und stößt sich nach unten ab. Es folgt Bong, dann Wing und schließlich Goto Dengo.
Diese Etappe ist sehr lang. Die letzten fünfzehn Meter sind ein senkrechter Anstieg in die Luftkammer. Goto Dengo hatte gehofft, dass der natürliche Auftrieb ihrer Körper ihnen die Sache erleichtern würde, selbst wenn sie schon kurz vor dem Ertrinken wären. Aber während er sich mit heftigen Stößen den Schacht hinaufarbeitet und verzweifelt an den Füßen von Wing schiebt, der über ihm ist und nicht so schnell schwimmt, wie er das gerne hätte, spürt er wachsende Beengung in seinen Lungen. Schließlich begreift er, dass er gegen den Drang ankämpfen muss, den Atem anzuhalten – dass seine Lungen mit Luft gefüllt sind, die unter erheblich höherem Druck steht als das Wasser um ihn herum und dass es ihm den Brustkorb zerreißen wird, wenn er nicht einen Teil dieser Luft entweichen lässt. Also lässt er sie, entgegen seinem Instinkt, die kostbare Luft zu bewahren, aus seinem Mund sprudeln. Er hofft, dass die Blasen an den Gesichtern der Männer über ihm vorbeiströmen und sie auf den gleichen Gedanken bringen werden. Aber kurz, nachdem er ausgeatmet hat, bewegen sie sich alle überhaupt nicht mehr weiter.
Ungefähr zehn Sekunden lang ist Goto Dengo in völliger Dunkelheit in einem mit Wasser gefüllten, senkrechten Loch im Felsen gefangen, dessen Durchmesser nur wenig über dem seines Körpers liegt. Von allem, was er im Krieg erlebt hat, ist dies das Schlimmste. Doch als er gerade aufgibt und sich auf das Sterben gefasst macht, geht es wieder weiter. Sie sind halb tot, als sie die Atemkammer erreichen.
Wenn Goto Dengos Berechnungen richtig waren, müsste der Druck hier nicht mehr als zwei bis drei Atmosphären betragen. Aber allmählich beschleichen ihn Zweifel an diesen Berechnungen. Als er genügend Luft eingeatmet hat, um wieder ganz bei Besinnung zu sein, wird er sich heftiger Schmerzen in den Knien bewusst, und die Laute, die die anderen von sich geben, machen deutlich, dass sie ebenso leiden.
»Diesmal warten wir, solange es geht«, sagt er.
Die nächste Etappe ist kürzer, wird aber durch die Schmerzen in ihren Knien erschwert.Wieder schwimmt Rodolfo als erster los. Doch als Goto Dengo in die nächste Luftkammer aufsteigt, die ungefähr anderthalb Atmosphären über normal liegt, findet er nur Bong und Wing vor.
»Rodolfo hat die Öffnung verpasst«, sagt Bong. »Ich glaube, er ist zu weit geschwommen – den Belüftungsschacht rauf!«
Goto Dengo nickt. Nur ein paar Meter hinter der Stelle, wo sie in diesen Gang abgebogen sind, geht ein Belüftungsschacht ab, der bis an die Oberfläche reicht. Er weist in der Mitte einen scharfen Seitwärtsknick auf, den Goto hat anlegen lassen, damit der diagonale Tunnel – ihr Fluchtweg – nicht blockiert würde, wenn Hauptmann Noda den Schacht mit Schutt füllte (was mittlerweile vermutlich geschehen ist). Wenn Rodolfo diesen Schacht hinaufgeschwommen ist, so ist er in eine Sackgasse geraten, an deren Ende sich keine Luftblase befindet.
Goto Dengo muss den anderen nicht sagen, dass Rodolfo tot ist. Bong bekreuzigt sich und spricht ein Gebet. Sie bleiben eine Zeit lang und nutzen die Luft, die sie sich eigentlich mit Rodolfo teilen müssten. Der Schmerz in Goto Dengos Knien wird heftiger, nimmt nach einer Weile aber nicht mehr weiter zu.
»Von hier aus gibt es nur noch wenig Höhenunterschiede, also ist kaum noch Dekompression nötig. Ab jetzt schwimmen wir hauptsächlich auf Entfernung«, sagt er. Sie haben immer noch mehr als dreihundert Meter in waagrechter Richtung, unterbrochen von vier weiteren Schächten zum Luftholen, zurückzulegen. Der letzte ist zugleich ein regulärer Belüftungsschacht.
Von da an ist es nur noch ein Wechsel zwischen Schwimmen und Ausruhen, Schwimmen und Ausruhen, bis die Tunnelwände schließlich hinter ihnen zurückbleiben und sie sich im Yamamoto-See wiederfinden.
Goto Dengo
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