Cryptonomicon
ist voll gestopft mit schweren Schiffen, großen Frachtern, die das Wasser füllen wie Floßholz ein Staubecken. Der Containerhafen liegt direkt unterhalb von ihm im Westen: ein Gitter aus Lagerhäusern auf dem Meer abgerungenem Land, das so flach und so natürlich ist wie eine Holzspanplatte.
Wenn er über die Kräne und Container hinweg direkt in westliche Richtung über die Bucht schaut, erkennt er mit Mühe die sechzig bis siebzig Kilometer entfernte gebirgige Silhouette der Halbinsel Bataan. Folgt er ihrer schwarzen Skyline nach Süden – entlang der Route, die die Japaner 42 nahmen -, kann er ganz undeutlich einen Brocken ausmachen, der unmittelbar vor ihrer südlichen Spitze liegt. Das dürfte die Insel Corregidor sein. Dies ist das allererste Mal, dass er sie überhaupt sehen kann; heute ist die Luft ungewöhnlich klar.
Bruchstückweise gelangt historische Halbbildung an die Oberfläche seines geschmolzenen Gehirns. Die Galeone von Acapulco. Das Leuchtsignal auf Corregidor.
Er tippt Avis GSM-Nummer ein. Irgendwo auf der Welt antwortet Avi. Er klingt, als säße er in einem Taxi, und zwar in einem jener Länder, in denen lautes Hupen immer noch ein unveräußerliches Recht ist. »Was geht dir durch den Kopf, Randy?«
»Visierlinien«, antwortet Randy.
»Ha!«, entfährt es Avi, als hätte er soeben einen Medizinball in den Bauch bekommen. »Du hast es also rausgekriegt.«
Guadalcanal
Die Leichen der Marine Raiders werden nicht mehr von Blut und Atemluft auf Normaldruck gehalten. Das Gewicht ihrer Ausrüstung drückt sie platt in den Sand. Die sich beschleunigende Brandung hat schon begonnen, sie zuzuschaufeln; Kometenschweife aus Blut verschwimmen im Ozean, rote Teppiche für Haie, die die Küstenlinie absuchen. Unter ihnen ist auch eine riesige Echse, doch alle haben sie in etwa die gleiche Form: dick in der Mitte und sich zu den Enden hin verjüngend, von den Wellen stromlinienförmig gemacht.
Ein kleiner Konvoi japanischer Boote bewegt sich den Meeresarm entlang, im Schlepptau Kähne, die mit Nachschubgütern in Stahlfässern beladen sind. Eigentlich müssten Shaftoe und sein Zug sie im Augenblick mit Mörsergranaten eindecken.Wenn die amerikanischen Flugzeuge auftauchen und die Nips fertig machen, werden sie die Fässer über Bord werfen, weglaufen und hoffen, dass ein paar davon bei Guadalcanal angetrieben werden.
Für Bobby Shaftoe ist der Krieg vorbei, und das wohl kaum zum ersten oder letzten Mal. Er schleppt sich zwischen dem Zug hindurch. Wellen schlagen ihm in die Kniekehlen und zerlaufen dann zu Zauberteppichen aus Schaum und pflanzlichen Substanzen, die über den Strand hingleiten, sodass es Shaftoe ständig die Beine wegzuziehen scheint. Ohne jeden Grund dreht es ihn ständig herum und er fällt auf den Hintern.
Schließlich erreicht er die Leiche des Sanitäters und nimmt ihr alles ab, was ein rotes Kreuz ziert. Er kehrt dem Nip-Konvoi den Rücken und blickt über ein langes Glacis hinweg zur Hochwasserlinie hin. Es könnte ebenso gut der Mount Everest sein, von einem tief liegenden Basislager aus gesehen. Shaftoe beschließt, die Herausforderung auf allen vieren anzugehen. Hin und wieder klatscht ihm eine Welle auf den Hintern, rauscht ihm orgasmisch zwischen den Beinen hoch und wäscht ihm das Gesicht. Das fühlt sich gut an und verhindert außerdem, dass er nach vorn kippt und unterhalb der Hochwassermarke einschläft.
Die nächsten paar Tage sind eine Hand voll schmutziger, verblichener Schwarzweiß-Schnappschüsse, immer wieder neu gemischt und ausgeteilt: der Strand unter Wasser, von stehenden Wellen markierte Positionen von Leichen. Der Strand leer. Der Strand erneut unter Wasser. Der Strand übersät mit schwarzen Klumpen, wie eine Scheibe von Großmutter Shaftoes Rosinenbrot. Ein halb im Sand vergrabenes Morphiumfläschchen. Kleine dunkelhäutige Menschen, größtenteils nackt, die bei Ebbe am Strand entlanggehen und die Leichen fleddern.
He, Moment! Irgendwie hat sich Shaftoe hochgerappelt, hält krampfhaft seine Springfield fest. Der Dschungel will ihn nicht loslassen; in der Zeit, die er dort gelegen hat, haben Kriechpflanzen seine Gliedmaßen überwuchert. Als er, mit einer Schleppe aus Laubwerk wie ein mit Telexstreifen verzierter Umzugswagen, ins Freie tritt, überflutet ihn die Sonne wie warmer Brechwurzsirup. Er kann den Boden auf sich zukommen sehen. Im Fallen dreht er sich um die eigene Achse – und erblickt flüchtig einen kräftigen Mann mit einem Gewehr -,
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