Cryptonomicon
dann drückt es ihm das Gesicht in den Sand. Die Brandung rauscht in seinem Schädel: eine anständige stehende Ovation von einem Studiopublikum von Engeln, die, da sie alle selbst gestorben sind, wissen, was ein schöner Tod ist.
Kleine Hände wälzen ihn auf den Rücken. Sein eines Auge ist mit Sand verklebt. Mit dem anderen sieht er einen großen Kerl vor sich stehen, der ein Gewehr umgehängt hat. Der Kerl hat einen roten Bart, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen japanischen Soldaten handelt, ein klein wenig geringer wird. Aber was ist er dann?
Er tastet ihn ab wie ein Arzt und betet wie ein Priester – sogar auf Lateinisch. Kurz geschorenes Silberhaar auf einem gebräunten Schädel. Shaftoe mustert die Kleidung des Kerls auf irgendwelche Abzeichen. Er hofft, ein Semper Fidelis zu entdecken, liest jedoch stattdessen: Societas Eruditorum und Ignoti et quasi occulti.
»Ignoti et... was zum Teufel heißt das?«, fragt er.
»Verborgen und unbekannt – so ungefähr jedenfalls«, sagt der Mann. Er hat einen seltsamen Akzent, irgendetwas zwischen Australisch und Deutsch. Nun betrachtet er seinerseits Shaftoes Abzeichen. »Was ist ein Marine Raider? Irgendeine neue Einheit?«
»Das Gleiche wie ein Marine, bloß härter«, sagt Shaftoe. Das hört sich vielleicht nach Aufschneiderei an. Zum Teil ist es das sogar. Aber im Augenblick ist die Bemerkung so voller Ironie wie Shaftoes Kleidung voller Sand, denn zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ist ein Marine nicht nur ein zäher Scheißkerl. Er ist ein zäher Scheißkerl, der ohne Essen oder Waffen irgendwo am Ende der Welt (Guadalcanal) festsitzt (was, wie jeder Marine einem sagen kann, an einer finsteren Verschwörung zwischen General MacArthur und den Nips liegt), der sich nach und nach ausnahmslos alles selbst zusammenbastelt, aus gefundenen Gegenständen Waffen improvisiert und die halbe Zeit von Krankheiten und den Medikamenten, die sie in Schach halten sollen, benebelt ist. Und unter jedem dieser Aspekte ist ein Marine Raider (wie Shaftoe sagt) das gleiche wie ein Marine, bloß härter.
»Gehören Sie vielleicht zu irgendeinem Kommandotrupp oder so was?«, fragt Shaftoe und unterbricht damit das Gemurmel des Rotbärtigen.
»Nein. Ich wohne auf dem Berg.«
»Ach ja? Und was machen Sie da oben, Red?«
»Beobachten. Und mich über Funk unterhalten, verschlüsselt.« Dann nimmt er sein Gemurmel wieder auf.
»Mit wem reden Sie denn da, Red?«
»Meinen Sie, jetzt gerade, auf Lateinisch, oder verschlüsselt über Funk?«
»Sowohl als auch, denke ich.«
»Verschlüsselt über Funk rede ich mit den Guten.«
»Wer sind die Guten?«
»Eine lange Geschichte. Wenn Sie überleben, stelle ich Ihnen vielleicht einen davon vor.«
»Und jetzt gerade, auf Lateinisch?«
»Mit Gott«, sagt Red. »Die letzte Ölung, falls Sie nicht überleben.«
Dabei fallen Shaftoe die anderen ein. Er entsinnt sich wieder, warum er überhaupt die unsinnige Entscheidung getroffen hat, aufzustehen. »He! He!« Er versucht, sich aufzusetzen, stellt fest, dass es nicht geht, und dreht sich herum. »Die Scheißkerle plündern die Leichen aus!«
Er kann nicht scharf sehen und muss sich den Sand aus dem einen Auge wischen.
In Wirklichkeit kann er wunderbar sehen. Was wie über den Strand verstreute Stahlfässer aussieht, entpuppt sich als – über den Strand verstreute Stahlfässer. Die Eingeborenen wühlen sie aus dem Mahlsand, buddeln wie Hunde mit den Händen und rollen sie den Strand hinauf in den Dschungel.
Shaftoe verliert das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, ziert den Strand eine Reihe von Kreuzen – mit Ranken zusammengebundene und mit Dschungelblumen geschmückte Stöcke. Red hämmert sie gerade mit dem Kolben seines Gewehrs fest. Sämtliche Stahlfässer und die meisten Eingeborenen sind verschwunden. Shaftoe braucht Morphium. Er sagt es Red.
»Wenn Sie glauben, dass Sie jetzt welches brauchen«, sagt Red, »dann warten Sie noch.« Er wirft sein Gewehr einem Eingeborenen zu, tritt an Shaftoe heran und hievt ihn sich im Feuerwehrgriff auf die Schultern. Shaftoe brüllt. Am Himmel fliegen zwei Zeros vorbei, als sie in den Dschungel hineinmarschieren. »Ich heiße Enoch Root«, sagt Red, »aber Sie können Bruder zu mir sagen.«
GALEONE
Eines Morgens steht Randy Waterhouse früh auf, tritt nach einer langen warmen Dusche vor den Spiegel seiner Manila-Hotel-Suite und rasiert sich das Gesicht blutig. Er hat in Erwägung gezogen, diese Aufgabe einem
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