Cryptonomicon
Spezialisten anzuvertrauen: dem Friseur in der Hotellobby. Da es aber das erste Mal seit zehn Jahren ist, dass Randys Gesicht unbedeckt sein wird, möchte er es selbst als Erster sehen. Er hat regelrecht Herzklopfen, teils aus einer höllischen Urangst vor dem Messer heraus, teils vor gespannter Erwartung. Die Situation erinnert ihn an die Szene in kitschigen alten Filmen, wo die Binden endlich vom Gesicht des Patienten genommen werden und man ihm einen Spiegel reicht.
Die Wirkung entspricht erst einmal einem starken Déjà-vue-Erlebnis, als hätte er die letzten zehn Jahre seines Lebens nur geträumt und müsste sie jetzt noch einmal durchleben.
Dann fallen ihm nach und nach Kleinigkeiten auf, die sich in seinem Gesicht verändert haben, seit es das letzte Mal Luft und Licht ausgesetzt war. Mit leichtem Erstaunen nimmt er zur Kenntnis, dass diese Veränderungen gar nicht mal nur schlecht sind. Randy hat sich nie für besonders gut aussehend gehalten, was ihm aber auch nichts ausgemacht hat. Doch das rot getüpfelte Antlitz im Spiegel sieht ohne Frage besser aus als das, das vor einem Jahrzehnt im immer tiefer werdenden Schatten der Bartstoppeln verschwand.
Eine Woche ist es jetzt her, seit er und Avi ihr gesamtes Konzept den hohen Beamten der PTA, der Post- und Telekommunikationsbehörde, dargelegt haben. PTA (Post and Telecoms Authority) ist ein Oberbegriff, den Telekommanager in allen Ländern, die sie zufällig in dieser Woche besuchen, wie eine gelbe Haftnotiz auf jede Regierungsstelle aufkleben, die für diese Dinge zuständig ist. Auf den Philippinen nennt man sie übrigens anders.
Die Amerikaner haben die Philippinen ins zwanzigste Jahrhundert geführt oder zumindest begleitet und den Verwaltungsapparat ihrer Zentralregierung aufgebaut. Intramuros, das tote Herz von Manila, ist von einem lockeren Ring gewaltiger klassizistischer Gebäude ganz nach Art des District of Columbia umgeben, die verschiedene Teile dieses Apparates beherbergen. Die PTA hat ihre Hauptstelle in einem dieser Gebäude, unmittelbar südlich des Pasig.
Randy und Avi kommen zeitig dort an, weil Randy, an den Verkehr in Manila gewöhnt, darauf besteht, dass sie für die zwei bis drei Kilometer lange Taxifahrt vom Hotel eine ganze Stunde veranschlagen. Paradoxerweise herrscht jedoch wenig Verkehr und am Ende haben sie noch volle zwanzig Minuten totzuschlagen. Sie schlendern seitlich um das Gebäude herum auf den grünen Damm hinauf. Avi sucht mit dem Blick das Gebäude der Epiphyte Corp., nur um sich zu vergewissern, dass ihre Visierlinie frei ist. Davon ist Randy bereits überzeugt; mit verschränkten Armen steht er einfach da und schaut auf den Fluss. Der ist von Ufer zu Ufer mit schwimmendem Abfall verstopft: mit pflanzlichem Material, hauptsächlich aber mit alten Matratzen, Kissen, weggeworfenen Teilen aus Plastik oder Kunststoff und vor allem mit Plastiktüten in verschiedenen leuchtenden Farben. Der Fluss hat die Konsistenz von Erbrochenem.
Avi rümpft die Nase. »Was ist das?«
Randy schnuppert in die Luft und riecht aus allem anderen verbranntes Plastik heraus. Er deutet flussabwärts. »Eine illegale Siedlung auf der anderen Seite von Fort Santiago«, erklärt er. »Sie fischen Plastik aus dem Fluss und nutzen es als Brennstoff.«
»Vor ein paar Wochen war ich in Mexiko«, sagt Avi. »Da gibt es Plastikwälder!«
»Wie das?«
»In dem von der Stadt her wehenden Wind pflücken die Bäume die Plastikeinkaufstüten aus der Luft, bis sie völlig damit zugedeckt sind. Die Bäume sterben, weil Licht und Luft nicht mehr zu den Blättern hindurchdringen. Sie bleiben aber stehen, vollständig mit flatterndem, zerfetztem Plastik in den verschiedensten Farben überzogen.«
Randy schüttelt seinen Blazer ab und krempelt die Ärmel hoch; Avi scheint die Hitze gar nicht aufzufallen. »Das ist also Fort Santiago«, sagt er und lenkt seine Schritte darauf zu.
»Du hast davon gehört?«, fragt Randy und folgt ihm mit einem tiefen Seufzer. Die Luft ist so heiß, dass sie sich, wenn sie aus der Lunge kommt, um mehrere Grad abgekühlt hat.
»Es wird auf dem Video erwähnt«, antwortet Avi, während er eine Videokassette hochhält und damit wackelt.
»Ach ja.«
Bald stehen sie vor dem Eingang zum Fort, der von den Gestalten zweier in das poröse vulkanische Gestein gemeißelter Wachen flankiert wird: Hellebarden schwingende Spanier mit Pluderhosen und dem typischen Helm der Conquistadores. Seit nahezu einem halben Jahrtausend
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