Cugel der Schlaue
Abstand nehmen. Ihr werdet Zurückhaltung vorziehen, da allein schon eure Würde für euch spricht.« Drofo blickte von Gesicht zu Gesicht. »Versteht ihr?«
Verwirrt antwortete Lankwiler: »Nicht ganz. Die Schüler im Institut berechnen gewohnheitsgemäß das Gewicht eines einzelnen Regentropfens. Ist das nun als gut oder schlecht zu erachten?«
Höflich antwortete Drofo: »Wir urteilen nicht über die Forschungen der Schüler und Gelehrten am Institut, sondern sprechen über die Arbeit der Wurminger.«
»Ah! Nun ist mir alles klar!«
»Genau!« bestätigte Cugel. »Fahrt fort mit Euren interessanten Ausführungen, werter Drofo.«
Mit den Armen weiterhin auf dem Rücken, ging Drofo einen Schritt nach Steuerbord, dann einen Schritt nach Backbord. »Unser ist eine ausgesprochen edle Berufung! Die Pfuscher, die Schwächlinge, die Narren, sie alle offenbaren ihre wahren Farben. Verläuft die Reise gut, so ist jedes Mondkalb freundlich und bester Dinge. Ein solcher Mensch hopst im Tanz herum und spielt die Ziehharmonika. Dann denkt ein jeder: ›Wäre mir nur das Leben eines Wurmingers vergönnt!‹ Doch dann greifen die Unbilden an! Unerbittlich tobt der schwärzeste Sturm, und das Schiff erschallt unter seinen Schlägen wie der Gong des Schicksals. Die Würmer bäumen sich auf und schlagen aus: Dann zeigt der Geck sein wahres Gesicht, oder vielmehr, man wird ihn in den dunkelsten Winkeln des Laderaumes suchen müssen, wohin er sich verkrochen hat!«
Cugel und Lankwiler ließen sich diese Worte durch den Kopf gehen, während Drofo erst nach Backbord, dann nach Steuerbord stapfte.
Nunmehr deutete Drofo mit langem bleichen Zeigefinger auf das Meer. »Dorthin ziehen wir, halbwegs zwischen Himmel und Meeresgrund, wo die Geheimnisse jeden Zeitalters sich in einer Dunkelheit verbergen, die vollkommen wird, wenn die Sonne erlischt!«
Wie um seine Bemerkung zu bestätigen, schob sich flüchtig eine schwarze Wolke vor das Antlitz der Sonne. Nach kurzem Zögern kehrte das Tageslicht zurück, zur offensichtlichen Erleichterung Lankwilers, während Drofo überhaupt nicht darauf achtete. Er hob den Finger in die Luft.
»Der Wurm ist ein Freund des Meeres! Er ist weise, obgleich er nur sechserlei zu kennen scheint: Sonne, Wellen, Wind, Horizont, dunkle Tiefe, Richtungstreue, Hunger und Sättigung ... Ja, Lankwiler? Weshalb zählst du mit den Fingern?«
»Es ist nichts von großer Bedeutung, Herr.«
»Die Würmer sind nicht klug«, fuhr Drofo fort. »Sie können keine Kunststücke und verstehen keine Witze. Der gute Wurminger ist ein anspruchsloser Mann, genau wie seine Würmer. Es interessiert ihn wenig, was er ißt, und es ist ihm egal, ob er naß oder trocken schläft oder überhaupt nicht. Wenn seine Würmer geradeaus streben, wenn der Seegang richtig ist, wenn die Würmer ordentlich fressen und gut verdauen, dann ist der Wurminger zufrieden. Mehr verlangt er nicht von der Welt, weder Reichtum noch Bequemlichkeit noch die Zärtlichkeiten sinnlicher Frauen, auch nicht Zierat wie dieser geckenhafte Putz, den Cugel da an seinem Hut trägt. Sein Weg ist das Nichts der Gewässer!«
»Wie erregend!« rief Lankwiler. »Ich bin stolz, ein Wurminger zu sein! Und du, Cugel?«
»Ich nicht weniger!« versicherte Cugel. »Welch eine würdige Berufung. Diese Hutzier ist übrigens ein Erbstück, wenngleich von keinem großen Wert.«
Drofo nickte gleichmütig. »Nun werde ich euch den obersten Grundsatz unseres Berufes offenbaren, dem weltweite Bedeutung verliehen werden kann. Ein Mann kommt zu euch und sagt: ›Ich bin ein Meisterwurminger!‹ Oder ein Meisterwurminger bleibt abseits stehen, ohne ein Wort zu äußern. Wie läßt sich die Wahrheit erkennen? Nun, die Würmer verraten sie!
Ich werde es genauer erklären. Solltet ihr eine gelbe, schleimige Kreatur mit aufgedunsenem Hals sehen, die Kiemen mit Wasserstein verkrustet und mit Geschwüren am Rücken – wem gebt ihr da die Schuld? Der Wurm, der nur Wasser und Weite kennt? Oder ihm, der ihn pflegen sollte? Können wir einen solchen Menschen Wurminger nennen? Entscheidet selbst! Doch hier ist ein anderer Wurm: kräftig, richtungstreu, rosig wie der Sonnenaufgang! Dieser Wurm bezeugt die Hingabe seines Wurmingers, der unermüdlich seine Glieder poliert, es gar nicht zu Druckstellen kommen läßt, und die Kiemen säubert und glänzend reibt, bis sie wie Silber blitzen! Er ist auf unvorstellbare Weise eins mit Brandung und Meer, und sein ist die heitere Gelassenheit, wie nur
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